Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
Freundlichkeit, die dahinterstand, weckten in ihr dennoch ein bisher uneingestandenes Verlangen nach weiblichem Trost, nach der Gemütlichkeit in Mrs. Crealeys »Oase«. Sie sehnte sich nach dem vertrauten, miefigen Geruchsgemisch aus Alkohol und Mrs. Crealeys Parfüm, hätte sich am liebsten gleich in dem niedrigen Sessel vor dem Gasofen zusammengekuschelt, wo man sich geborgen fühlte wie im Mutterleib, und stellte sich vor, wie schön es wäre, von draußen den beruhigenden Verkehrslärm der Whitechapel Road zu hören. Sie fühlte sich nicht wohl in dieser eleganten Wohnung, und diese Leute waren, trotz aller Freundlichkeit, nicht ihresgleichen. Mandy wollte zu Mrs. Crealey.
»Ich könnte die Agentur anrufen«, sagte sie unvermittelt. »Meine Chefin ist vielleicht noch im Büro.«
Frances Peverell schien überrascht, aber sie führte Mandy ohne Zögern hinauf in ihr Schlafzimmer. »Hier sind Sie ungestörter, Mandy«, sagte sie. »Ach, und falls Sie sich frisch machen wollen, nebenan ist auch gleich das Bad.«
Das Telefon stand auf dem Nachttisch, und darüber hing ein Kruzifix. Mandy hatte natürlich schon Kruzifixe gesehen, meistens in Kirchen, aber dieses hier war ganz anders. Der Christus sah noch sehr jung aus, hatte ein bartloses, wie glattrasiertes Gesicht, und sein Kopf war nicht im Todesschmerz auf die Brust gesunken, sondern wild zurückgeworfen. Und da auch der Mund weit offenstand, sah es aus, als würde er seinen Gott um Mitleid oder Rache anflehen. Mandy dachte, daß sie so etwas nicht neben ihrem Bett würde haben wollen, aber sie spürte doch, daß von dem Kunstwerk eine große Kraft ausging. Fromme Menschen beteten vor einem Kruzifix, und wenn sie Glück hatten, wurden ihre Gebete auch erhört. Ein Versuch konnte also nicht schaden. Während sie Mrs. Crealeys Geschäftsnummer wählte, heftete Mandy den Blick ganz fest auf die silberne Figur mit der Dornenkrone und formte mit den Lippen lautlos die Worte: »Bitte, mach, daß sie rangeht. Bitte, mach, daß sie da ist.« Aber obwohl sie ihr stummes Gebet mehrmals wiederholte, klingelte das Telefon unbeachtet weiter, und es hob niemand ab.
Keine fünf Minuten später läutete es an der Tür. James de Witt ging hinunter und kam mit Dauntsey und Bartrum zurück.
Frances Peverell fragte: »Was geht denn draußen vor, Gabriel? Ist Commander Dalgliesh gekommen?«
»Nein, nur Inspector Miskin und Inspector Aaron. Ach ja, sie haben noch den jungen Detective Sergeant und einen Fotografen dabei. Sie warten nur noch auf den Polizeiarzt, damit der Esmes Tod bezeugt.«
»Aber das sieht doch jeder, daß sie tot ist«, rief Frances. »Dazu brauchen sie doch keinen Arzt.«
»Ich weiß, Frances, aber so sind nun mal die Vorschriften. Nein, danke, für mich keinen Wein. Sydney und ich, wir haben im Sailor’s Return schon seit halb acht ins Glas geguckt.«
»Wie wär’s dann mit einer Tasse Kaffee? Für Sie auch, Sydney?«
Sydney Bartrum wirkte verlegen. »Nein, danke, Miss Peverell«, sagte er. »Ich muß wirklich gehen. Ich hab’ meiner Frau gesagt, daß ich mit Mr. Dauntsey rasch noch auf ein Gläschen ins Pub gehen und etwas später kommen würde, aber ich bin immer vor zehn zu Hause.«
»Ja, dann müssen Sie natürlich los, sie wird sich womöglich schon Sorgen machen. Rufen Sie sie doch rasch noch von hier aus an.«
»Besten Dank, ja, das sollte ich wohl«, stammelte Bartrum und folgte Frances aus dem Zimmer.
De Witt fragte: »Wie nehmen Sie’s denn auf – ich meine die von der Polizei?«
»Professionell, wie sonst? Gesagt haben sie nicht viel. Ich hatte allerdings den Eindruck, daß sie nicht gerade erbaut davon waren, daß wir die Leiche angerührt oder auch nur den Abschiedsbrief gelesen haben.«
De Witt schenkte sich noch ein Glas Wein ein. »Ja, was denken die sich denn, verdammt noch mal? Hätten wir sie einfach hängen lassen sollen? Und der Brief war schließlich an uns adressiert. Wer weiß, ob die uns überhaupt gesagt hätten, was drinsteht, wenn wir ihn nicht selber gelesen hätten. Bei Gerards Tod haben sie uns ja auch ganz schön im unklaren gelassen.«
»Sobald der Wagen vom Leichenschauhaus kommt und sie abholt«, sagte Dauntsey, »werden Aaron und die Miskin hier heraufkommen.« Er zögerte und setzte dann hinzu: »Es könnte sein, daß ich Esme hab’ ankommen sehen. Sydney und ich, wir waren für halb acht im Sailor’s Return verabredet, und als ich zum Wapping Way kam, da sah ich ein Taxi in den Innocent Walk
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