Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
sah so schwer aus.«
»Das ist sie auch«, sagte Inspector Miskin. »Sehen Sie selbst.« Sie nahm Inspector Aaron eine Plastiktüte ab und kippte die Tasche der Toten samt Inhalt auf den Tisch.
Die anderen sahen gespannt zu, wie sie die Schlaufen aufnestelte. Zum Vorschein kam ein Manuskript, das in hellblauen Karton gebunden war. Der Name der Autorin sowie der Romantitel standen in Großbuchstaben auf dem Deckel: TOD AUF PARADISE ISLAND VON ESME CARLING. Und quer über den Umschlag war mit dicker roter Tinte gekritzelt: Abgelehnt – und das nach dreißig Jahren, gefolgt von drei Ausrufezeichen.
»Dann hat sie also das Manuskript und ihren Abschiedsbrief mit hierhergebracht«, sagte Frances Peverell. »Ich fürchte, ein bißchen sind wir alle mitschuldig. Wir hätten wirklich mehr Rücksicht auf die Ärmste nehmen sollen. Aber sich deswegen umzubringen… Und auf so grauenhafte Art. Wie furchtbar, und wie mutterseelenallein sie gewesen sein muß. Arme Frau.«
Sie wandte sich ab, und James de Witt trat zu ihr, jedoch ohne sie zu berühren. »Hören Sie«, erkundigte er sich bei Inspector Miskin, »müssen wir dieses Gespräch unbedingt heute abend fortsetzen? Wir stehen alle noch unter Schock, und daran, daß es Selbstmord war, kann es ja wohl keinen Zweifel geben.«
Inspector Miskin schob das Manuskript wieder in die Tasche. »Zweifel bestehen immer so lange«, sagte sie ruhig, »bis wir alle Fakten kennen. Wann hat Miss Carling eigentlich erfahren, daß der Verlag ihren Roman ablehnen wollte?«
»Mrs. Carling«, korrigierte de Witt. »Sie war verheiratet, wurde aber vor einiger Zeit geschieden, und ihr früherer Mann ist inzwischen verstorben. Daß wir ihr neuestes Buch nicht mehr machen, erfuhr sie an dem Tag, an dem Gerard Etienne starb. Sie kam in den Verlag, um ihn zur Rede zu stellen, aber wir waren grade mitten in einer Konferenz, und sie konnte nicht warten, weil sie in Cambridge eine Signierstunde hatte. Doch das wissen Sie ja bereits alles.«
»War das die Signierstunde, die vor ihrer Ankunft in der Buchhandlung abgesagt wurde?«
»Ja, genau die.«
»Und hat Mrs. Carling sich seit Mr. Etiennes Tod mit einem von Ihnen oder vielleicht mit sonst jemandem aus dem Verlag in Verbindung gesetzt?«
Wieder sahen de Witt und Frances Peverell einander an. De Witt sagte: »Mit mir nicht. Hat sie sich bei dir gemeldet, Frances?«
»Nein, ich hab’ nichts mehr von ihr gehört. Eigentlich komisch, wenn ich jetzt so drüber nachdenke. Wenn wir nur mit ihr hätten reden und ihr alles erklären können, dann wäre das vielleicht nicht passiert.«
Inspector Aaron fragte unvermittelt: »Wer hat denn vorhin beschlossen, sie aus dem Fluß zu ziehen?«
»Ich.« Frances Peverell richtete einen sanften, aber vorwurfsvollen Blick auf ihn.
»Sie haben doch bestimmt nicht geglaubt, daß Sie sie wiederbeleben könnten?«
»Nein, das habe ich wohl nicht gedacht, aber es war so schrecklich, sie da hängen zu sehen. So…« Sie brach ab und sagte nach kurzem Besinnen: »So unmenschlich.«
De Witt erklärte spitz: »Wir sind nun mal nicht alle Polizeibeamte, Inspector. Einige von uns haben immer noch ganz normale menschliche Regungen.«
Inspector Aaron wurde rot, warf einen Blick auf Inspector Miskin, beherrschte sich aber, wenn auch sichtlich mit Mühe.
Inspector Miskin sagte ruhig: »Dann wollen wir hoffen, daß Sie sich die bewahren können. Aber Miss Price möchte jetzt sicher gern nach Hause. Inspector Aaron und ich werden sie mitnehmen.«
Mandy sagte eigensinnig wie ein Kind: »Ich will aber nicht, daß Sie mich mitnehmen. Ich will mit meinem Motorrad heimfahren.«
»Ihr Motorrad ist hier völlig sicher, Mandy«, sagte Frances Peverell begütigend. »Wenn Sie wollen, können wir es auch gern in Nummer 10 in der Garage einschließen.«
»Ich will es aber nicht in der Garage lassen. Ich will damit nach Hause fahren.«
Am Ende bekam sie ihren Willen, aber Inspector Miskin bestand darauf, daß der Polizeiwagen ihr hinterherfuhr. Mandy machte sich einen Spaß daraus, sich wendig und flink durch den Verkehr zu schlängeln, so daß die beiden Kriminalbeamten große Mühe hatten, sie nicht zu verlieren.
Als sie in der Stratford High Street vor ihrem Haus hielten, sagte Inspector Miskin mit einem Blick auf die dunklen Fenster: »Haben Sie nicht gesagt, daß jemand zu Hause wäre?«
»Stimmt ja auch. Die sind bloß alle in der Küche. Hören Sie, ich kann wirklich alleine auf mich aufpassen. Ich bin schließlich kein
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