Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
gesagt, in dem ein Kind die Architektur und Kunst der Renaissance verstehen könne. Sie aber hatte schon damals geargwöhnt, daß er lieber allein gereist wäre und sie eigentlich nur mitnahm, weil er keinen plausiblen Grund mehr hatte, sich dieser Pflicht zu entziehen, einer Pflicht, die dennoch ein Quentchen Hoffnung für sie beide verhieß.
Es waren die ersten und letzten Ferien, die sie gemeinsam verbrachten. Sie hatte sich auf Wärme gefreut, auf hellen Sonnenschein, schmucke Gondolieri auf blauem Wasser, prächtige Marmorpalazzi und darauf, in einem der neuen Kleider, die Mrs. Rawlings, die Haushälterin, eigens für den festlichen Anlaß ausgesucht hatte, mit ihm allein zu speisen und bei Tisch zum erstenmal Wein zu trinken. Sie hatte aus tiefstem Herzen gehofft, diese Reise möge zu einem Neubeginn werden. Aber es hatte schon schlecht angefangen. Sie mußten während der Schulferien fahren, und die Stadt war überfüllt. Dann hing die ganzen zehn Tage ein bleierner Himmel über der Lagune, und zwischendurch gingen heftige Regenschauer nieder und tüpfelten die Kanäle mit großen, schweren Tropfen so unansehnlich braun wie die Themse daheim. Was sich Frances einprägte, waren ständiger Lärm, heisere, fremdländische Stimmen, die entsetzliche Angst, ihren Vater in dem Gedränge zu verlieren, der Anblick dämmriger alter Kirchen, in denen der Küster zum Lichtschalter schlurfte und bald ein Fresko, bald ein Deckengemälde oder einen Altarflügel illuminierte und in denen die Luft schwer war von Weihrauch und der säuerlich-muffigen Ausdünstung nasser Kleider. Ihr Vater hatte sie zwischen den schubsenden Touristen nach vorn dirigiert und ihr flüsternd die Gemälde erklärt, während rings um sie vielsprachiges Stimmengewirr wogte und von fern die herrischen Rufe der Fremdenführer schallten.
Ein Gemälde war ihr noch immer lebhaft in Erinnerung. Eine Mutter stillt ihr Kind, ein einzelner Mann schaut zu, indes am Himmel ein Gewitter aufzieht. Sie spürte, da war etwas, worauf sie hätte ansprechen sollen, irgendeine geheimnisvolle Verquickung von Thema und Symbolik, und sie hätte gar zu gern die Begeisterung ihres Vaters geteilt und etwas gesagt, das, wenn es schon nicht klug sein konnte, ihn doch wenigstens nicht veranlassen würde, sich mit jener stummen Mißbilligung von ihr abzuwenden, die sie inzwischen gewohnt war. Und immer waren diese schmerzlichen Augenblicke begleitet gewesen von Worten, die von irgendwoher aus der Erinnerung auftauchten. »Madam ist nie mehr so richtig geworden nach der Geburt. Diese Schwangerschaft war ihr Tod, daran gibt’s nichts zu deuteln. Und jetzt guck dir bloß mal an, was wir auf dem Hals haben.« Wer das gesagt hatte – eine Frau, an deren Namen und Stellung im Haus sie sich längst nicht mehr erinnerte –, hatte wahrscheinlich nur gemeint, daß es schier unmöglich sei, einen so großen Haushalt ohne die lenkende Hand einer Herrin zu führen, für das Kind aber hatten die Worte damals und später nur eines bedeutet: »Sie hat ihre Mutter umgebracht, und nun schau, was für einen schlechten Tausch wir gemacht haben.«
Noch eine Erinnerung an die Venedigreise blieb ihr über Jahre hinweg frisch im Gedächtnis. Sie waren zum erstenmal in der Accademia, er hatte ihr sanft den Arm um die Schulter gelegt und führte sie vor Carpaccios Traum der heiligen Ursula. Sie waren ausnahmsweise einmal allein, und als sie so neben ihm stand und den leichten Druck seiner Hand spürte, da blickte sie plötzlich geradewegs in ihr Schlafzimmer in Innocent House. Hier waren die Doppelbogenfenster mit den Butzenscheiben im halbmondförmigen oberen Drittel, die Tür in der Ecke stand einen Spalt offen, die beiden Vasen auf dem Fensterbrett glichen aufs Haar denen daheim, und auch das Bett erkannte sie wieder, ihr schönes Himmelbett mit dem hohen, geschnitzten Kopfteil und der quastengeschmückten Rüschenborte. »Siehst du«, hatte ihr Vater gesagt, »du hast ein Schlafzimmer aus dem Venedig des fünfzehnten Jahrhunderts.«
In dem Bett lag eine Frau, und sie hatte den Kopf in die Hand gestützt. »Ist die Lady tot?« hatte Frances gefragt.
»Tot? Warum sollte sie denn tot sein?«
Sie hatte den gewohnten scharfen Ton in seiner Stimme erkannt und keine Antwort gegeben. Sie hatte überhaupt nichts mehr gesagt. Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge, bis er sie, die Hand noch immer auf ihrer Schulter, nur daß ihr Druck jetzt schwerer lastete (oder kam es ihr nur so vor?),
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