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Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut

Titel: Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Erwachsenen kamen nie auf die Idee, daß sie sich vor dem Tunnel fürchtete, und sie wäre lieber gestorben, als es einzugestehen. Sie hatte von klein auf mitbekommen, daß ihr Vater Tapferkeit als die höchste aller Tugenden bewunderte. Also trippelte sie zwischen den Großen einher, die sie in gespielter kindlicher Anhänglichkeit an den Händen hielt, bemüht, sich ja nicht zu fest anzuklammern, die Augen niedergeschlagen, damit man nicht sah, wie fest sie die Lider zusammenkniff, und atmete den unverwechselbaren Tunnelgeruch, hörte das Echo ihrer Schritte und stellte sich die schweren Wassermassen über ihren Köpfen vor, eine furchterregend mächtige Gewalt, die eines Morgens die Tunneldecke durchbrechen und herunterkommen würde, erst in schweren Tropfen zwischen den berstenden Fliesen hindurchregnend und dann plötzlich in einer donnernden, schwarzen übelriechenden Woge, die ihnen die Beine unterm Leib fortreißen und in tosendem Strudel steigen und steigen würde, bis zwischen ihren zappelnden Körpern und schreienden Mündern nur noch wenige Zentimeter Luft und Platz blieben. Und dann nicht einmal mehr das.
    Fünf Minuten später schwebten sie mit dem Fahrstuhl hinauf ans Tageslicht, und vor ihnen lag das prunkvoll stattliche Ensemble des Royal Naval College, der Königlichen Marineschule, mit seinen Zwillingskuppeln und den Wetterfahnen mit vergoldeter Spitze. Dem Kind war dabei jedesmal zumute, als sei es eben der Hölle entflohen und stehe nun geblendet vom Glanz des Himmlischen Jerusalem. Hier lag auch die Cutty Sark im Trockendock, das pfeilschnelle, schnittige Segelschiff mit den stolzen Masten, dessen Name sich von einem schottischen Gedicht ableitete und soviel bedeutet wie »kurzes Hemd«, eine Anspielung auf die leichtgeschürzte Galionsfigur. Frances’ Vater erzählte ihr vom Handelsmonopol der Ostindischen Kompanie im Fernen Osten und davon, wie die Cutty Sark und ähnlich wendige, auf hohe Geschwindigkeiten getrimmte Klipper sich im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert regelrechte Wettrennen auf den Ozeanen geliefert hätten, um die leicht verderblichen frischen Tee-Ernten aus China und Indien in Rekordzeit auf den heimischen Markt zu befördern.
    Schon als sie noch ganz klein war, hatte der Vater ihr Geschichten über die Themse erzählt, diese bedeutende Verkehrsader, die in immerwährendem Wechsel ihres starken Gezeitenstroms Englands Geschichte entscheidend mitgeprägt hatte, was den alten Peverell fast bis zur Besessenheit faszinierte. Er beschrieb ihr die Flöße und die primitiven Ruderboote aus mit Leder bezogenem Flechtwerk, die als erste die Themse befuhren, die Rahsegel der römischen Frachtschiffe, die mediterrane Luxusgüter nach Londinium brachten, die Wikingerboote mit dem hochgewölbten Schnörkelbug. Und er schwärmte von der Themse des frühen achtzehnten Jahrhunderts, als London der größte Hafen der Welt war und die Werften und Kais mit ihren zahllosen hochmastigen Schiffen aussahen wie sturmentblätterte Wälder. Er schilderte ihr das rauhe Leben im Hafenviertel und zählte die vielen Berufszweige auf, die der Strom früher ernährte:
    Schauermänner und Löscharbeiter, die Fährleute, die mit ihren Schleppkähnen die Überseedampfer versorgten, solange sie hier vor Anker lagen, Seiler und Ausrüster, Bootsbauer, Schiffsbäcker, Zimmerleute, Rattenfänger, Pfandleiher, Gastwirte, Trödler, kurz arm und reich, die alle ihren Lebensunterhalt dem Fluß verdankten. Er hatte ihr denkwürdige Ereignisse, die auf der Themse spielten, in lebhaften Farben ausgemalt: wie Heinrich VIII. in der königlichen Barkasse mit goldenem Wappen stromaufwärts nach Hampton Court gerudert wird, wo man ihm mit hochgezogenen Riemen den Ehrensalut erweist; wie Lord Nelsons Leichnam 1806 in der Barkasse, die ursprünglich für Charles II. gebaut wurde, von Greenwich in die City kommt; und er hatte ihr von Überschwemmungen und Katastrophen erzählt. Und die ganze Zeit über hatte sie sich – viel mehr noch als nach all den spannenden Geschichten – nach seiner Liebe und Anerkennung gesehnt. Sie hatte gehorsam zugehört, hatte die richtigen Fragen gestellt und instinktiv gespürt, daß er wie selbstverständlich davon ausging, sie würde sein lebhaftes Interesse teilen. Doch das ihre war nur vorgetäuscht gewesen, und heute wußte sie, daß die Gewissensbisse wegen dieses Betrugs ihre angeborene Zurückhaltung und Schüchternheit nur noch verstärkt hatten, daß der Fluß noch furchterregender

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