Adam Dalgliesh 09: Wer sein Haus auf Sünden baut
wurde, weil sie ihre Angst davor nicht eingestehen konnte, und daß ihr Verhältnis zum Vater noch mehr erkaltete, weil es auf einer Lüge begründet war.
Aber sie hatte sich ihre eigene Welt geschaffen, und wenn sie nachts in ihrem prächtigen, aber ungemütlichen Kinderzimmer wachlag, wie ein Baby im Mutterleib unter der Decke zusammengerollt, dann entwich sie in die Geborgenheit dieser Phantasiewelt. In der hatte sie eine Schwester und einen Bruder, mit denen sie in einem großen Pfarrhaus auf dem Lande lebte. Dort gab es einen Garten mit Obstbäumen und einem Spalier und Gemüsebeeten, die durch sauber geschnittene Hecken von den weitläufigen Rasenflächen abgegrenzt waren. Jenseits des Gartens verlief ein Bach, aber der war nur knöcheltief, so daß sie ganz leicht drüberhüpfen konnten. Und am Bach stand eine alte Eiche mit einem Baumhaus, behaglich wie eine richtige Hütte, und dorthin verzogen sie sich mit ihren Büchern, lasen und aßen Äpfel dazu. Sie schliefen zu dritt im Kinderzimmer, mit Blick auf Rasengrün, Rosengarten und Kirchturm, und es gab weit und breit kein Geschrei, keinen Flußgestank, keine Schreckensbilder, nur Zärtlichkeit und Frieden. Auch eine Mutter hatte sie dort, und die war hochgewachsen und blond, trug ein langes, blaues Kleid und kam mit einem vage bekannten Gesicht über den Rasen auf sie zu und breitete die Arme weit aus, damit sie hineinspringen konnte, denn sie war die Jüngste und wurde von allen am meisten geliebt.
Sie wußte, daß ihr im Erwachsenenleben ein Pendant zu dieser angstfreien Welt durchaus offenstand. Sie konnte James de Witt heiraten, zu ihm in sein reizendes Haus in Hillgate Village ziehen und Kinder von ihm bekommen, die Kinder, die auch sie sich von Herzen wünschte. Sie konnte auf seine Liebe vertrauen, seiner Güte gewiß sein und sich darauf verlassen, daß es in ihrer Ehe, egal welche Probleme auch auftreten mochten, niemals Grausamkeit und kalte Zurückweisung geben würde. Und sie hätte lernen können – wenn schon nicht, ihn zu begehren, was sich ja nicht steuern ließ, so doch in Freundlichkeit und Güte einen Ersatz für Sehnsucht und Verlangen zu finden, so daß auch Sex mit ihm mit der Zeit möglich, ja sogar schön hätte werden können, im geringsten Fall der Preis, den sie für seine Liebe zahlte, und bestenfalls ein Pfand der Zuneigung und des Glaubens daran, daß wahre Liebe auf die Dauer auch Gegenliebe zu erzeugen vermag. Aber dann war sie drei Monate lang Gerard Etiennes Geliebte gewesen. Und nach diesem Wunder, dieser Offenbarung konnte sie es nicht einmal mehr ertragen, daß James sie auch nur berührte. Gerard, der sie wie beiläufig genommen und ebenso beiläufig wieder fallengelassen hatte, raubte ihr damit auch noch die Chance, sich mit der zweiten Wahl zu trösten.
Es waren immer die Schrecken des Flusses gewesen, nichts Romantisches oder Geheimnisvolles, was ihre Phantasie beschäftigt hatte, und nach Gerards brutaler Zurückweisung kehrten diese Schrecken, die sie mit der Kindheit abgestreift zu haben glaubte, mit neuerlicher Kraft zurück. Für sie war die Themse ein dunkler Strom des Grauens: Da war das glitschige, algenverklebte Tor, das in die grimme Feste des Towers führte; das dumpfe Dröhnen der Axt und die Wellen, die gegen die Wapping Old Stairs schlugen, jene berüchtigte Ufertreppe, über die man einst die Piraten bei Ebbe ins Wasser zerrte und, an Pfähle gefesselt, dreimal täglich von der hereinkommenden Flut überspülen ließ; und da waren endlich die stinkenden Schiffsgefängnisse draußen in Gravesend mit ihrer angeketteten, elenden menschlichen Fracht. Selbst die Ausflugsdampfer, die flußaufwärts tuckerten und deren Decks widerhallten vom Gelächter ausgelassener Urlauber, waren ihr nur eine unliebsame Erinnerung an die größte aller Themse-Tragödien. die von 1878, als der Raddampfer Princess Alice auf der Rückfahrt von Sheerness von einem Kohlenschiff gerammt wurde und sechshundertvierzig Menschen in den Fluten ertranken. Ihr war mitunter, als höre sie die Hilferufe der Opfer im Kreischen der Möwen, und wenn sie nachts hinuntersah auf das fast schwarze, lichtgesprenkelte Flußbett, dann meinte sie darin die bleichen, nach oben gekehrten Gesichter der ertrunkenen Kinder zu erkennen, die, den Armen der Mütter entrissen, wie zarte Blütenblätter auf den dunklen Wellen trieben.
Mit fünfzehn hatte ihr Vater sie zum erstenmal mit nach Venedig genommen. Fünfzehn sei das früheste Alter, hatte er
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