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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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Teil von sich auf, um Aufnahme in ein System zu finden, das einen, so harmlos es auch war, auf subtile Weise der Initiative, ja beinahe des freien Willens beraubte. Jeder saß dort in seiner eigenen Welt, geduldig und fügsam. Eine Frau in mittleren Jahren, ein Kind neben sich auf dem Stuhl, starrte ausdruckslos ins Nichts. Das kleine Mädchen langweilte sich und blickte unternehmungslustig um sich. Schließlich begann es mit den Füßen leise gegen die Stuhlbeine zu stoßen, bis die Frau ihm, ohne es anzuschauen, mit ausgestreckter Hand Einhalt gebot. Gegenüber von ihnen zog ein junger Mann, in seinem dunklen Anzug der Prototyp eines Bankers, die Financial Times aus seiner Aktenmappe, klappte sie mit geübten Bewegungen auseinander und richtete seine Aufmerksamkeit auf eine Seite. Eine modisch gekleidete Frau bewegte sich leise auf den Tisch zu, begutachtete die Magazine, konnte sich für keines entscheiden, kehrte zu ihrem Stuhl am Fenster zurück und schaute wieder auf die leere Straße hinaus.
    Man ließ Rhoda nicht lange warten. Die junge Frau, die sie hereingebracht hatte, kam zu ihr und teilte ihr mit leiser Stimme mit, dass Mr. Chandler-Powell sie jetzt empfangen könne. Bei seiner Fachrichtung begann die Diskretion offenbar schon im Wartezimmer. Sie wurde in einen großen, hellen Raum auf der anderen Seite des Flurs geführt. Schwere Leinenvorhänge rahmten die beiden hohen Doppelfenster zur Straße hin, und ein weißer, beinahe durchsichtiger Store aus Musselin dämpfte das winterliche Sonnenlicht. In dem Raum fand sich nichts von dem Mobiliar und den Geräten, die sie eigentlich erwartet hatte; er glich eher einem Salon als einem Sprechzimmer. Links von der Tür in der Ecke stand ein schöner lackierter Wandschirm mit einem ländlichen Motiv, das Wiesen, einen Bach und ferne Berge darstellte. Er war offenkundig alt, wahrscheinlich aus dem achtzehnten Jahrhundert. Vielleicht, dachte sie, verdeckte er ein Waschbecken oder sogar eine Behandlungscouch, aber das schien eher unwahrscheinlich. Man konnte sich nicht recht vorstellen, dass sich in diesem privaten, wenn auch opulent eingerichteten Ambiente jemand seiner Kleider entledigte. Auf beiden Seiten des marmornen Kamins stand je ein großer Ohrensessel, und gegenüber der Tür waren zwei Stühle vor einen Sockelschreibtisch geschoben. Das einzige Ölbild hing über dem Kaminsims, das gewaltige Gemälde eines Tudor-Hauses, vor dem eine Familie des achtzehnten Jahrhunderts posierte, der Vater und zwei Söhne zu Pferde, die Frau mit drei jungen Töchtern in einer offenen Kutsche. An der Wand gegenüber hing eine Reihe kolorierter Stiche von Londoner Stadtansichten des achtzehnten Jahrhunderts. Die Stiche und das Ölgemälde gaben ihr das Gefühl, sanft der Zeit enthoben zu sein.
    Mr. Chandler-Powell, der hinter seinem Schreibtisch gesessen hatte, war bei ihrem Eintritt aufgestanden und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen, bevor er auf einen der beiden Stühle deutete. Sein Händedruck war fest, aber kurz, seine Hand kühl. Sie hatte ihn sich in einem dunklen Anzug vorgestellt. Stattdessen trug er hellen, blass-grauen Tweed, elegant geschnitten, der ihn kurioserweise noch förmlicher erscheinen ließ. Als sie Platz genommen hatte, schaute sie in ein kräftiges, kantiges Gesicht mit einem großen, beweglichen Mund und hellbraunen Augen unter buschigen Brauen. Das braune Haar, glatt und etwas widerspenstig, war über eine hohe Stirn gekämmt, ein paar Strähnen fielen fast bis in sein rechtes Auge. Als ersten Eindruck vermittelte er Selbstvertrauen, und sie erkannte sogleich die Patina, die etwas mit Erfolg zu tun hatte, wenn auch nicht alles. Es war ein anderes Selbstvertrauen als das, mit dem sie als Journalistin oft zu tun hatte: Berühmtheiten, immer begierig nach der nächsten Kamera spähend, allzeit bereit für die adäquate Pose; Schaumschläger, die zu wissen schienen, dass ihre Berühmtheit eine Erfindung der Medien war, ein flüchtiger Ruhm, den nur ihr verzweifelter Glaube an sich selbst aufrechterhalten konnte. Hier saß ihr ein Mann in der inneren Gewissheit gegenüber, im Zenit seiner Karriere zu stehen, unantastbar zu sein. Sie meinte sogar einen Hauch von Arroganz zu spüren, den er nicht ganz verstecken konnte, aber das mochte ein Vorurteil sein. Master of Surgery. Ja, das passte.
    »Miss Gradwyn, Sie kommen ohne Überweisung Ihres Hausarztes zu mir.« Er sagte das als reine Feststellung, ohne Tadel. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme,

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