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Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod

Titel: Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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ihrem sechzehnten Geburtstag
verlassen und sich im Nachbarvorort ein möbliertes Zimmer gesucht. Bis
zu seinem Tode schickte ihr Vater ihr wöchentlich eine Fünfpfundnote in
einem Briefumschlag. Sie bedankte sich nie für das Geld, behielt es
aber, weil sie es als Zuschuss zu ihrem Wochenendjob als
Aushilfskellnerin dringend benötigte, und rechtfertigte sich damit,
dass es wahrscheinlich weniger war, als sie zu Hause verzehrt hätte.
Als fünf Jahre später – nach einem ausgezeichneten Abschluss
in Geschichte hatte sie in ihrer ersten Stelle Fuß gefasst –
ihre Mutter anrief und ihr mitteilte, dass ihr Vater gestorben war,
registrierte sie ein völliges Fehlen von Gefühlen, das ihr
paradoxerweise stärker und nachhaltiger erschien als jede Form von
Trauer. Sie hatten seine Leiche aus einem Fluss in Essex gezogen,
dessen Namen sie sich nie merken konnte, und am Alkoholpegel im Blut
hatte man ablesen können, dass er im Vollrausch gewesen war. Der
amtliche Leichenbeschauer bescheinigte erwartungsgemäß und wohl auch
korrekterweise Tod durch Unfall. Sie hatte darauf gehofft. Nicht ohne
einen Hauch von Scham, der schnell wieder verflog, sagte sie sich, dass
ein Selbstmord ein zu vernünftiger, zu bedeutsamer Schlussstrich unter
ein so fruchtloses Leben gewesen wäre.

3
    Das Taxi kam schneller voran als erwartet. Um nicht zu früh in der Harley Street anzukommen, ließ sie den Fahrer am Ende der Marylebone Street anhalten und legte den Rest des Weges zu ihrem Termin zu Fuß zurück. Wie bei den wenigen anderen Malen, die sie hier durchgekommen war, war sie fasziniert von der Verlassenheit der Straße, der beinahe unheimlichen Ruhe, die über diesen klassischen Reihenhäusern aus dem achtzehnten Jahrhundert lag. Fast jede Tür trug ein Messingschild mit einer Liste von Namen, die signalisierten, was ohnehin jeder in London wusste – man war auf dem Olymp der ärztlichen Kunst angekommen. Irgendwo hinter diesen glänzenden Haustüren und diskret verhängten Fenstern warteten Patienten in den verschiedensten Stadien der Furcht, Besorgnis, Hoffnung oder Verzweiflung, aber man sah so gut wie nie einen von ihnen kommen oder gehen. Es begegnete einem höchstens einmal ein Vertreter oder ein Bote, ansonsten wirkte die Straße wie eine verlassene Filmkulisse, die auf den Regisseur, die Kameraleute und Schauspieler wartete.
    Als sie vor der Tür stand, studierte sie die Namen. Zwei Chirurgen und drei Internisten, der erwartete Name ganz oben: Mr. G. H. Chandler-Powell, FRCS, FRCS (Plast), MS – Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Chirurgen und der Plastischen Chirurgen, aber die beiden letzten Buchstaben taten kund, dass ein Chirurg den Gipfel der Fachkompetenz und Reputation erklommen hatte: MS – Master of Surgery . Das klang gut, fand sie. Die Wundärzte und chirurgischen Handwerker, die ihre Diplome aus der Hand Heinrichs des Achten erhalten hatten, wären erstaunt, wie weit es ihre Profession gebracht hatte.
    Die Tür öffnete ihr eine junge Frau mit ernstem Gesicht, ihr weißer Kittel war figurbetont geschnitten. Sie war attraktiv, aber nicht verstörend schön, und das kurze Begrüßungslächeln wirkte eher drohend als freundlich. Leitkuh, dachte Rhoda, Zugführerin bei den Pfadfinderinnen. So eine gab es in jeder Abschlussklasse.
    Das Wartezimmer, in das man sie brachte, entsprach so genau ihren Erwartungen, dass sie für einen Moment das Gefühl hatte, schon einmal hier gewesen zu sein. Es machte durchaus Eindruck, ohne Dinge von echter Qualität zu enthalten. Der große Mahagonitisch in der Mitte, auf dem Ausgaben von Country Life, Horse and Hounds und ein paar der anspruchsvolleren Frauenzeitschriften so ordentlich aufgereiht lagen, dass man sie sich kaum zu lesen traute, war eindrucksvoll, aber nicht elegant. Das Sortiment an Stühlen, einige mit steiler Rückenlehne, andere etwas bequemer, sah aus wie auf einem Landhausverkauf ersteigert, aber selten benutzt. Die Jagdstiche waren groß und beliebig genug, nicht zum Diebstahl zu verführen, und sie zweifelte an der Echtheit der beiden hohen Balustervasen auf dem Kaminsims.
    Außer ihr zeigte keiner der Patienten äußerliche Hinweise auf die spezifische Fachkenntnis, deren er bedurfte. Wie meistens, konnte sie die anderen beobachten, ohne befürchten zu müssen, dass neugierige Blicke lange auf sie gerichtet sein würden. Sie hatten kurz hochgeschaut, als sie eingetreten war, aber ohne ein kurzes Nicken der Begrüßung. Als Patient gab man einen

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