Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Stille gekannt hatten. An Sommerwochenenden wusste
sie, dass nur wenige Hundert Meter entfernt schon bald Einheimische und
Touristen in hellen Scharen über die Millennium Bridge strömen, die
vollbeladenen Flussschiffe mit majestätischer Plumpheit von ihren
Ankerplätzen ablegen würden und das öffentliche London zu lärmendem
Leben erwachte.
Aber von dieser Geschäftigkeit drang nichts in den Sanctuary
Court. Das Haus, das sie sich ausgesucht hatte, konnte sich nicht
gründlicher unterscheiden von der mit Gardinen verhängten
klaustrophobischen Doppelhaushälfte im Laburnum Grove in Silford Green,
dem Londoner Vorort, in dem sie zur Welt gekommen war und die ersten
sechzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Heute würde sie den ersten
Schritt tun, um sich mit dieser Zeit auszusöhnen oder – sollte
Aussöhnung nicht möglich sein – ihr wenigstens die
zerstörerische Wirkung zu nehmen.
Es war halb neun, sie war in ihrem Badezimmer. Sie drehte das
Duschwasser ab und trat, in ein Handtuch gehüllt, vor den Spiegel über
dem Waschbecken. Als sie mit der Hand über das beschlagene Glas
wischte, erschien ihr Gesicht blass und namenlos wie ein verschwommenes
Gemälde. Seit Monaten hatte sie die Narbe nicht mehr bewusst berührt.
Jetzt fuhr sie mit den Fingerspitzen behutsam über ihre ganze Länge,
tastete den silbrigen Streifen in der Mitte, die harten, unebenen
Konturen der Ränder ab. Sie verdeckte die Wange mit einer Hand und
stellte sich die Fremde vor, die in ein paar Wochen in denselben
Spiegel schauen und dort eine Doppelgängerin von ihr sehen würde, eine
unvollkommene, nicht entstellte allerdings, auf deren Gesicht
vielleicht nur noch eine schmale weiße Linie anzeigte, wo dieser
wuchernde Spalt verlaufen war. Während sie auf ihr Antlitz blickte, das
ihr wie eine verblichene Fotografie eines früheren Selbst erschien,
riss sie langsam, aber systematisch ihre sorgsam errichteten
Schutzwälle ein und ließ die turbulente Vergangenheit wie einen
anschwellenden Bach zuerst, dann wie einen Hochwasser führenden Fluss
hereinbrechen und ihre Gedanken überspülen.
2
S ie war wieder in dem kleinen hinteren
Zimmer, Küche und Wohnzimmer zugleich, in dem ihre Eltern ihre Lügen
gelebt, ihr selbst gewähltes Exil vom Leben durchlitten hatten. Das
vordere Zimmer mit seinem Erkerfenster war besonderen Gelegenheiten
vorbehalten, Familienfesten, die nicht gefeiert wurden, Besuchern, die
nicht kamen; seine Stille roch nach Möbelpolitur mit Lavendelaroma und
abgestandener, so unheilschwangerer Luft, dass sie versuchte, sie nicht
zu atmen. Sie war das einzige Kind einer ängstlichen, unfähigen Mutter
und eines trinkenden Vaters. Seit über dreißig Jahren definierte sie
sich so, und daran hatte sich nichts geändert. Scham und Schuldgefühle
hatten ihre Kindheit und Jugend eingeengt. Die periodischen
Gewaltausbrüche ihres Vaters waren unberechenbar gewesen. Man konnte
nicht ruhigen Gewissens Schulfreundinnen mit nach Hause bringen oder
Weihnachts- oder Geburtstagspartys geben, und weil sie niemanden
eingeladen hatte, war sie auch von niemandem eingeladen worden. Ihre
Grundschule war eine reine Mädchenschule gewesen, und die Mädchen
pflegten untereinander sehr enge Freundschaften. Es galt als ein großer
Gunstbeweis, von einer Freundin eingeladen zu werden, im Hause ihrer
Eltern zu übernachten. Im Laburnum Grove 239 hatte nie ein fremdes Kind
geschlafen. Aber die Isolation machte ihr nicht viel aus. Sie wusste,
dass sie intelligenter als ihre Klassenkameradinnen war, und konnte
sich einreden, keinen Bedarf an Freundschaften zu haben, die
intellektuell unbefriedigend bleiben mussten und die ihr ohnehin
niemand anbot.
Es war an einem Freitagabend um halb zwölf. Ihr Vater hatte
seinen Lohn ausbezahlt bekommen, der schlimmste Tag der Woche.
Sie hörte das gefürchtete Geräusch, das harte Zuschlagen der
Eingangstür. Er kam hereingepoltert; Rhoda sah ihre Mutter vor dem
Lehnsessel, der Sekunden später seinen Zorn erregen würde. Es war sein
Sessel. Er hatte ihn ausgesucht und bezahlt. Am Vormittag war er
geliefert worden. Der Lieferwagen war schon wieder fort gewesen, als
ihre Mutter entdeckt hatte, dass es die falsche Farbe war. Man hätte
ihn umtauschen können, aber bis Ladenschluss war dazu keine Zeit
gewesen. Rhoda wusste, dass das weinerliche, kleinlaute Wimmern ihrer
Mutter ihn bis aufs Blut reizen würde und dass ihre eigene misslaunige
Anwesenheit keinem von beiden half, doch sie konnte nicht einfach
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