Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
führen,
hatte er unmissverständlich verweigert. Emma schritt in ihrem
cremefarbenen Hochzeitskleid, einen Kranz Rosen in den glänzenden
hochgesteckten Haaren, allein durch den Mittelgang. Beim Anblick ihrer
gefassten, wunderschönen Erscheinung stiegen Annie Tränen in die Augen.
Und es war noch mit einer weiteren Tradition gebrochen worden. Statt
mit dem Rücken zur Braut vor dem Altar zu stehen, hatte sich Adam
umgewandt und ihr lächelnd die Hand entgegengestreckt.
Nur noch vereinzelte Gäste waren sitzen geblieben, um der
Bach-Fuge zu lauschen. Clara flüsterte: »Die Hochzeit kann man doch als
gelungen bezeichnen. Eigentlich hätte man meinen sollen, unsere kluge
Emma würde sich über die üblichen weiblichen Konventionen hinwegsetzen.
Umso beruhigender finde ich es, dass sie vom selben Ehrgeiz gepackt
wird wie alle Bräute an ihrem Hochzeitstag – nämlich den
versammelten Gästen den Atem zu rauben.«
»Ich glaube nicht, dass sie sich wegen der Gäste die Mühe
gemacht hat.«
»Jane Austen würde doch hier passen«, sagte Clara. »Erinnerst
du dich an Mrs. Eltons Kommentar im letzten Kapitel von Emma?
Kaum weißer Satin, kaum Spitzenschleier; eine überaus erbärmliche
Angelegenheit!«
Ȇberleg doch mal, wie der Roman endet: Aber trotz
all dieser Mängel sahen sich die wenigen Freunde, die der Zeremonie
beiwohnten, in ihren Wünschen, Hoffnungen und Prophezeiungen durch das
vollkommene Glück dieser Ehe bestätigt.«
»Vollkommenes Glück, ein ganz schön hoher Anspruch«, meinte
Clara. »Aber glücklich werden sie sein. Und wenigstens muss Adam nicht
wie der arme Mr. Knightley mit seinem Schwiegervater zusammenwohnen. Du
hast ja ganz kalte Hände, mein Liebes. Gehen wir doch raus in die Sonne
zu den anderen. Ich brauche etwas zu trinken und ein paar Happen zu
essen. Weshalb macht die viele Gefühlsduselei so hungrig? Aber wie wir
Braut und Bräutigam und die Mensa hier im College kennen, werden sie
uns nicht enttäuschen. Keine durchweichten Kanapees, kein warmer
Weißwein.«
Aber Annie war noch nicht bereit für neue Vorstellungen, noch
mehr unbekannte Menschen und das Stimmengewirr einer lachenden, Glück
wünschenden, von der Feierlichkeit einer kirchlichen Trauung erfüllten
Hochzeitsgesellschaft. »Lass uns bleiben, bis die Musik aufhört«, bat
sie Clara.
Es gab Bilder, denen sie sich stellen, ungebetene Gedanken,
mit denen sie sich hier an diesem ernsten und friedlichen Ort befassen
musste. Sie saß wieder neben Clara im Old Bailey. Sie dachte an den
jungen Mann, der sie überfallen hatte, und an den Moment, als sie den
Blick auf die Anklagebank gerichtet und ihn gesehen hatte. Sie wusste
nicht, was sie erwartet hatte, jedenfalls nicht diesen völlig
gewöhnlich aussehenden Burschen, der sich offensichtlich nicht wohl
fühlte in dem Anzug, den er angezogen hatte, um das Gericht zu
beeindrucken, und der ohne sichtbare Regung dastand. Mit tonloser, kaum
verständlicher Stimme bekannte er sich schuldig, ohne Reue zu zeigen.
Er sah sie nicht an. Sie waren zwei Fremde, die durch einen einzigen
Augenblick, eine einzige Tat auf ewig miteinander verbunden waren. Sie
fühlte nichts, kein Mitleid, keine Vergebung, nichts. Es war ihr nicht
möglich, ihn zu verstehen oder ihm zu verzeihen, sie dachte nicht in
diesen Begriffen. Aber sie konnte sich vorstellen, dass sie nicht auf
alle Zeiten unversöhnlich sein, sich nicht aus Rachgier an seiner
Haftstrafe weiden würde. Es lag an ihr selbst, nicht an ihm, wie groß
der Schaden war, den er ihr zugefügt hatte. Er würde keine dauerhafte
Macht über sie haben, wenn sie es nicht zuließ. Ein Bibelvers aus ihrer
Kindheit fiel ihr ein, der mit der unmissverständlichen Stimme der
Wahrheit zu ihr sprach: Vernehmet ihr noch nicht, dass alles,
was außen ist und in den Menschen geht, das kann ihn nicht gemein
machen? Denn es geht nicht in sein Herz.
Und sie hatte Clara. Sie nahm Claras Hand. Und als Clara ihren
leisen Druck erwiderte, war sie sofort beruhigt. Sie dachte: Die
Welt ist ein schöner und zugleich schrecklicher Ort. Jeden Augenblick
werden Gräueltaten begangen, und am Ende sterben die, die wir lieben.
Wären die Schreie aller Lebewesen dieser Erde zu einem einzigen
Schmerzensschrei vereint, würde er die Sterne erzittern lassen. Aber
wir haben die Liebe. Sie mag uns zu zart erscheinen, um uns gegen die
Schrecken dieser Welt zu schützen, aber wir müssen an ihr festhalten
und an sie glauben, denn sie ist alles, was wir haben.
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