Adelheid von Lare: Historischer Roman um die Stifterin des Klosters Walkenried (German Edition)
saß und bereits einen Verband auf der Stirn trug. Gewiss würde er ihr Vorwürfe machen, doch sie wusste, dass er einen wachen Verstand hatte und wollte seine Meinung hören. Vorsichtig stieg sie über die Krankenlager hinweg. Magdalena warf ihr über die Schulter eines Jungen, dem sie gerade den Unterarm schiente, einen prüfenden Blick zu. Früher hätte die Gräfin den Verletzten zugelächelt, hier und dort mit einem freundlichen Wort Mut zugesprochen. Doch heute war ihre Miene versteinert. Traurig wandte die Zofe sich wieder dem Bauernkind zu, das mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete, wie sie seinen Arm verband.
Adelheid setzte sich neben den jungen Mann auf die Kaminbank, ohne dass Andreas es für nötig befand, aufzustehen oder zu grüßen. Er senkte nicht einmal den Blick, als er voller Bitterkeit sagte: „Wir hätten Euren Schutz dringend gebraucht, hohe Frau!“
Adelheid wollte auffahren und ihn zurechtweisen. Doch sie schwieg. Eine Weile saßen sie wie in stillem Einvernehmen nebeneinander, der Bauer und die Herrin. Dann deutete Andreas mit dem Kinn auf das Mädchen, das noch immer sein Gesicht an der Schulter der Frau vergraben hatte.
„Sie haben sich noch die Zeit genommen, das Lenchen zu schänden. Gleich drei von diesen Bastarden sind wie die Tiere über sie hergefallen. Die anderen haben zugesehen. Wir hörten ihre Schreie und vermochten nicht zu helfen! Könnt Ihr Euch vorstellen, wie das ist?“
Sie berührte den Ärmel seines hellgrauen Rockes und antwortete fast unhörbar: „Ja, das kann ich.“ Andreas begriff sofort, dass sie das nicht nur so dahin gesagt hatte. Es klang bestimmt und doch überaus hilflos und der junge Mann drehte sich mit erstauntem Gesichtsausdruck zu ihr herum. Sie war nicht die selbstbewusste, kühle Herrin, für die sie gehalten wurde, sondern eine einsame und ratlose junge Frau, überfordert von ihren Aufgaben.
In ihren Augen spiegelte sich tiefes Mitleid, als sie zu dem Mädchen hinübersah. Noch immer lag ihre Hand auf seinem Arm und sie fragte: „Was kann ich jetzt noch tun?“
Andreas spürte, dass sich eine solche Gelegenheit wahrscheinlich nie wieder bieten würde. Sie fragte ihn nach seinem Rat, und sie würde ihm zuhören! Doch er hatte auch nicht vergessen, wie herrisch und kühl sie ihn angefahren hatte, als er ihr vor zwei Monden widersprochen hatte. Würde sie seine Kritik akzeptieren oder würde sie ihn dafür in den Turm werfen lassen? Unbehaglich rutschte er auf der Bank hin und her, dann fasste er sich ein Herz, er war noch nie ein Hasenfuß gewesen.
„Hohe Frau, diese Grafschaft als Witwe allein zu regieren ist sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich. Die Zeiten sind unsicher. Im Land herrschen Hunger und Gewalt über Recht und Gerechtigkeit. Ihr müsst Euch einen Mann suchen, der mit starker Hand für Ruhe und Ordnung sorgt. Ihr seid noch sehr jung an Jahren, verzeiht meine Offenheit, auch Euch würde es gut tun, mal wieder einen starken Arm um Eure Schulter zu fühlen!“
Er hielt inne und wartete auf ihre Reaktion, doch sie schwieg und starrte auf ihre schlammbespritzten Fußspitzen. „Das Gesindel rund um Lare weiß sehr gut, dass hier auf der Burg eine junge Frau ganz allein steht und schert sich nicht mehr um die Gesetze, die Euer Vater noch mit harter Hand durchsetzen konnte. Die letzte Hinrichtung war die von Fortunatas Mördern, seitdem sind zwei Jahre vergangen!“
Vereinzelt trafen sie neugierige Blicke von den Menschen im Saal, die sich wahrscheinlich fragten, was denn die Herrin mit Andreas so lange zu bereden habe. Adelheid stand auf und ging mit leerem Blick hinaus.
Wie von unsichtbarer Hand gezogen, steuerte sie über den schneebedeckten Innenhof auf die Mauer zu und kletterte hinauf. Es war bitter kalt hier oben, völlig ungeschützt lag ihr Lieblingsplatz dem Sturm ausgesetzt. Schwere und nasse Schneeflocken kamen fast waagerecht aus westlicher Richtung auf sie zu und stachen wie Ahlen in ihrem Gesicht, doch sie spürte davon nichts. Die blank behauenen Steine der Mauer waren mit einem pappigen Schneeteppich überzogen und gefährlich glatt. Sie krallte sich am Mauerrand fest. Unter ihren Händen schmolz die kalte Schicht dahin und lief als Eiswasser am Gestein hinunter. Wahrlich – was wäre das für eine Mutprobe gewesen, im Winter bei Schnee die Mauerkrone entlang zu laufen! Nur gut, dass sie als Kinder nicht darauf gekommen waren.
Wie hatte Andreas sich ausgedrückt? Eine starke Hand musste her. Natürlich, doch
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