Adelheid von Lare: Historischer Roman um die Stifterin des Klosters Walkenried (German Edition)
wie sollte sie einen Ritter finden, der mutig genug war, der Grafschaft wieder zu Recht und Ordnung zu verhelfen? Wie konnte sie verhindern, dass er feige und trunksüchtig war? Doch hatte sie nicht gerade über Mutproben nachgedacht? Sie musste den zukünftigen Herrscher über Lare mit Hilfe einer solchen finden! Und was eignete sich dazu besser als die Mauer! Die hohen und starken geliebten Mauern von Lare würden über ihr Schicksal entscheiden.
Voll aufkeimender Hoffnung erhob sie sich vorsichtig und begann, mit bewusst gesetzten Schritten auf der Mauer zu laufen. Der Wind schien erbost ob dieses Vorhabens, denn er griff mit doppelter Stärke unter ihren durchweichten Mantel, der schwer an ihren Schultern zerrte. Geschmolzener Schnee tropfte vom Stirnteil des Gebändes und lief ihr über das Gesicht. Ihre Hände waren steif gefroren, doch ihr Herz erwärmte sich an dem neuen Gedanken in ihrem Kopf. Auf halbem Wege blieb sie stehen, drehte sich dem Sturm entgegen und breitete die Arme aus. Leicht nach vorn gebeugt fand sie ihr Gleichgewicht mit der wilden Kraft des Windes und schrie in die tosenden Schneewirbel hinein: „Ihr Mauern von Lare, höret meinen Schwur: Nur der wird mein Ehegemahl, der euch bezwingt, indem er auf eurer Krone die Burg umreitet!“ Der Sturm riss ihr die Wortfetzen von den Lippen und fegte sie hinüber zum Bergfried, der unbeeindruckt in den Nachthimmel ragte.
Ein Knecht, der hinterm Torhaus seine biervolle Blase entleeren wollte, sah vor dem vom Schneegestöber erhellten Horizont die schwarze Gestalt im wallenden Mantel und mit weit ausgebreiteten Armen auf der Mauer. Er bekreuzigte sich und rannte, sein dringendes Bedürfnis vergessend, mit den Beinkleidern in der Hand zurück in den Saal. Dort berichtete er atemlos, der Leibhaftige stünde auf den Mauern, womit er für reichlich Aufruhr sorgte.
Am nächsten Morgen ließ Adelheid noch vorm Frühstück Diabolus satteln und ritt mit einem halben Dutzend Männer als Begleitschutz ins Helbetal. Die Äste und Zweige der kahlen grauen Buchen waren dick mit Raureif überzogen und bogen sich unter der Last der weißen Pracht. Als habe der frühe Winter sämtliches Leben eingeschläfert, herrschte eine fast greifbare Stille im Wald, die nur vom Schnauben der Pferde und vom gedämpften Hufschlag unterbrochen wurde. Die Luft roch nach Frost und unter den Pferdehufen stieg der Geruch von moderndem Waldboden auf. Ab und zu fluchte einer der Männer unterdrückt, wenn ihm ein Zweig ins Gesicht schnellte und die nasskalten weißen Eiskristalle auf Pferd und Reiter herabrieselten.
Am Ufer des Feuergrundsees, den bereits eine dünne Eisschicht einrahmte, erinnerte weithin sichtbar ein weißes Steinkreuz an den Tod des Grafen Beringer. Adelheid ließ die Soldaten in geringer Entfernung warten und ging mit Diabolus am Halfter zu dem Denkmal, welches Ludwig vor zwei Jahren genau an der Stelle hatte setzen lassen, an der ihr Vater tödlich getroffen aus dem Sattel gestürzt war. Es war so hoch wie anderthalb Männer und dank des leuchtenden Kalksteins schon vom entgegengesetzten Ufer des Sees aus zu sehen. Aus Larescher Richtung wurde es allerdings vom dichten Wald verdeckt. Auf der nach Westen gewandten Seite hatte der Steinmetz den Namen des Grafen und die Geschichte seines Todes in den Stein gemeißelt und so der Nachwelt bewahrt. Die Rückseite des Denkmals zeigte ihren Bruder unter dem Wappen der Grafen von Lare vor einem Kruzifix kniend und für das Seelenheil des Ermordeten betend. Adelheid betrachtete den Stein inzwischen als Erinnerungsstätte für Vater und Bruder, waren sie doch beide in Bild und Schrift vereint. Wie schon oft zuvor kniete sie auch heute unter dem Kreuz nieder und begann zu beten. Dabei wandte sich nicht etwa an Gott, sondern direkt an ihre Lieben:
„Vater und Bruder, höret mich an: Ich bin gehalten, mir einen Ehegemahl zu suchen. Ich könnte den Kaiser um Hilfe bitten, doch will ich verhindern, dass er jemanden wählt, der feige oder trunksüchtig ist wie es Ritter Dietmar war. Um einen Mann zu finden, der stark genug ist, die Grafschaft in guten und in schlechten Zeiten tapfer und uneigennützig zu regieren, muss ich den Bewerbern eine Probe auferlegen. Ich habe beschlossen, dass derjenige, der mich ehelichen will, die Krone der äußeren Ringmauern der Burg Lare umreiten soll. Die Mauern der Burg werden selbst entscheiden, wer ihr Herr sein wird!“
Sie schwieg einen Moment, als warte sie auf ein Zeichen der
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