Adieu, Sir Merivel
bot einen herrlichen Blick über die bewaldeten Gärten hinweg zum See.
Ein starker Wind kam auf, ich lag in einem Himmelbett und horchte auf das Seufzen der Tannen. Und mir schien, ich befände mich gleichsam auf dem Höhepunkt meines Lebens, von wo aus ich sowohl nach vorne wie nach hinten schauen konnte.
Ich schlief vollkommen friedlich und träumte von Pearce. Er stand vor mir, während ich mit bewundernswert schwungvoller Geste und attaque eine Leiche sezierte, die auf einem Tisch im alten Anatomiesaal des Caius College in Cambridge lag. Der Körper ähnelte mir, trotzdem war ich es nicht – sondern nur jemand, der ich möglicherweise hätte sein können oder zu sein versucht hatte.
Während meine Vorführung voranschritt, machte Pearce sich viele Notizen. Und wie es seine Art war, stellte er nicht ein einziges Mal eine Frage zu meinen Befunden oder unterbrach mich. Als ich endlich fertig war, legte er mir seinen Arm auf die Schulter und sagte: »Du hast mich viel gelehrt, Merivel. Und du schlägst kaum jemals einen Irrweg ein. Eswar absolut bewunderungswürdig. Lass uns auf dein neues Können trinken.«
Woraufhin er eine Flasche Wein hervorholte, und wir reichten sie einander abwechselnd und löschten einen Durst, der kein Durst des Körpers war, sondern einer des Geistes – eine Sehnsucht nach Wissen und nach unserer alten Freundschaft. Einen solch schönen Traum von Pearce hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gehabt.
Als ich nachts erwachte, fiel mir wieder ein, dass all meine Habe verschwunden war.
Selbst jetzt war ich – wie in einen leinernen Kokon – in ein gewaltiges Nachthemd eingehüllt, das der Giraffe gehörte, und am nächsten Morgen würden es seine Strümpfe sein, die ich anziehen müsste.
Dass ich seine Kleidung tragen musste, machte mir nicht wenig zu schaffen, denn es erinnerte mich daran, dass Jacques-Adolphe de Flamanville, Oberst der Schweizer Garden Seiner Majestät, noch immer der Gemahl jener Frau war, die kennen und lieben zu lernen ich hierhergekommen war, und dass ich ein armer Sir Niemand war. Ich dachte daran, dass de Flamanville jeden Augenblick erscheinen konnte, um mich auf einem Maultier fortzujagen.
Und ich begann zu überlegen, welche Waffen ich zu meiner Verteidigung besaß, und ich wusste sofort, ich hatte eine. Und das war die große Liebenswürdigkeit, die der Baron de Saint Maurice mir erwies. Dieser bejahrte Mann mit seinem Notizheft und seinem Tintenfass, seinem großartigen Humor und seiner Weisheit würde, so entschied ich, Mittel finden, Schaden von mir fernzuhalten.
Er hatte versprochen, mir am nächsten Morgen seine Bibliothek zu zeigen, in der es, wie er sagte, Bücher zu jedem Thema gebe – von der Botanik bis zur Dämonenlehre, von den Leibesübungen bis zur Pharmakologie, von den Gezeiten des Ozeans bis zum Gerben von Leder, von der Kunstin Kathai bis zu einer Abhandlung über den Aberglauben in der Welt, von Mutterschaft bis Mythenkunde, von Zephiren bis Zoologie …
Und so stellte ich mir all dieses Wissen, das für mich nun frei verfügbar war, als eine Art Schutzschild vor oder vielleicht sogar als einen unsichtbaren umfriedeten Hain der Aufklärung, der mich von all jenen fernhielt, die mich zu ihrem Feind erklären und mir nach dem Leben trachten wollten.
25
Wie ein Segen lag unterdessen über meinen ersten Tagen auf dem Château das heitere Gleichmaß des Wetters.
An meinem ersten Morgen zeigte der Baron mir nach dem Frühstück seine Besitzungen, während Louise in ihr Laboratorium verschwand. Und so sah ich seine vielen Hektar Weinberge voller Trauben, die in der milden Sonne der Ernte entgegenreiften. Er besaß auch große Pappelpflanzungen für die Vermarktung von Holz, und auf den grasbewachsenen steilen Hängen führten seine Kühe ein beschauliches, gut genährtes Leben.
Seine Obstgärten strotzten vor reifen Pflaumen, Äpfeln und Birnen. Es schien kein Stückchen Land zu geben, das nicht erfolgreich nutzbar gemacht worden wäre. Brachliegendes oder unfruchtbares Gelände gab es nicht. Und im französisch angelegten Garten wuchs eine große Menge von Kräutern und medizinischen Pflanzen, die Louise zu ihren Experimenten mit Salben und Tinkturen angeregt hatten. Der ordnende Geist, den ich hier am Werke sah, war planvoll und jeglicher Verschwendung abhold.
Und an diesen Geist wandte ich mich und sagte: »Hier erkenne ich, dass ich auf Bidnold in der Nutzung des Bodens nicht so einfallsreich gewesen bin, wie ich hätte sein
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