Adieu, Sir Merivel
sollen. Vieles bei mir ist bloßes Parkland, es bringt gar nichts hervor und dient nur meiner kleinen Rotwildherde.«
»Nun«, sagte der Baron, »die Schweiz ist ein kleines Land, und die Hälfte ragt mit Gipfeln und Felswänden steil in den Himmel. Wir müssen erfinderisch sein, wenn wir nicht sterben wollen.«
Nach dieser Bemerkung schwieg er eine ganze Weile, danndrehte er sich zu mir um und sagte: »Sir Robert, wir müssen uns jetzt einem heiklen Thema zuwenden.«
»Oh«, sagte ich. »In heiklen Angelegenheiten würde ich aber gern Merivel genannt werden und nicht ›Sir Robert‹.«
»Merivel? Nun gut, gewiss, wenn Ihr es wünscht. Namen sind wichtig. So, und nun muss ich Euch mitteilen, Merivel, dass meine Tochter etwas sehr Qualvolles zu erdulden hat, eine unglückliche Ehe …«
»Ein wenig weiß ich Bescheid …«
»Ich werfe mir vor, dass ich dieser Ehe zugestimmt habe; aber de Flamanville machte ihr sehr artig und vornehm den Hof, und wir wussten damals nicht, dass er Frauen nie geliebt hat. Es wurde eine wahre Tortur für sie, weil er ein grausamer Mann ist, und ein Ende ist anscheinend nicht abzusehen – zumindest kein einigermaßen ehrenhaftes Ende. Deshalb hoffe ich seit einiger Zeit, dass Louise die Liebe vielleicht woanders entdeckt. Euer Besuch wird sie glücklich machen, da bin ich sicher.«
Wir spazierten gerade durch einen Apfelhain, und der Baron pflückte einen schönen roten Délice und reichte ihn mir. Ich hielt ihn in der Hand und betrachtete ihn. Und wie er da in dem ruhigen Licht der Sonne glänzte, war er in seiner Vollkommenheit so eindrucksvoll, dass ich das Gefühl hatte, Saint Maurice habe mir einen Edelstein geschenkt.
»Ich war in den vergangenen Jahren sehr viel allein«, sagte ich. »Doch als ich Louise kennenlernte, spürte ich, wie das Leben zu mir zurückkehrte. Sie ist eine außergewöhnliche Frau. Und seid versichert, Baron, ich habe die allergrößte Achtung vor ihr, ganz besonders vor ihrer Begabung als Botanikerin …«
»Ja, ihre Begabung. Sie ist mannigfaltig und bemerkenswert. In Kürze werdet Ihr Louises Kompositionen für Cembalo hören, die wirklich hübsch geworden sind.«
»Es wird mir eine Ehre sein, zum Publikum zu gehören.«
»Aber – und bitte verzeiht, wenn Ihr der Meinung seid,dass dies mich nichts angeht – ich hielt meine Tochter und Euch für ein Liebespaar? Sie erzählte mir, ihr wäret Liebende geworden.«
»Ja …«
»Sie ist fünfundvierzig, Sir Robert. Und ebenso wie ich ist sie von leidenschaftlicher Natur.«
»Ja …«
»Sie sollte nicht ungeliebt alt werden.«
»Nein, ich habe nicht vor –«
»Sie sagte mir, Ihr hättet sie vergangene Nacht nicht aufgesucht.«
»Nein.«
»Dann verstehe ich aber nicht recht …«
»Nun, ich war mir nicht sicher, wie ich mich in Eurem Haus zu verhalten hätte …«
»Ach so. Dann lasst mich Euch Folgendes fragen: Wie, glaubt Ihr, würde Euer König Charles sich wohl verhalten haben?«
Ich drehte den Délice in meiner Hand, spürte seine Kühle und stellte mir sein festes Fleisch vor. »Er hätte nicht gezögert«, antwortete ich. »Er hätte sich zu Eurer Tochter gelegt.«
Der Baron und ich hatten eine lange Strecke im warmen Sonnenschein zurückgelegt und gingen gerade recht gemächlich die Auffahrt zum Schloss hinauf, als wir hinter uns das Klipp-Klapp von Pferdehufen vernahmen.
Sofort sah ich im Geiste Oberst de Flamanville – rittlings auf einem formidablen Hengst, das Schwert gezückt, bereit, mich mit einem Streich zu erschlagen, um dann, nach diesem Auftakt, Louise nach Paris oder Versailles zu verschleppen.
Als ich mich vorsichtig umschaute, sah ich jedoch, dass das Pferd ein Maultier war – tatsächlich sogar dasselbe Maultier, das mich abgeworfen hatte, und auf seinem Rücken der Ziegenjunge, der es mir vermietet hatte.
Er zügelte das Maultier, das stolpernd zu einem uneleganten Halt kam. Und da entdeckte ich dann, dass an den Rumpf des Geschöpfs mein verlorener Koffer geschnallt war.
»Potzblitz!«, sagte ich, »welch eine ehrliche Gegend, Baron.«
»Nun«, sagte der Baron. »Die Luft hier ist klar. Man kann alles sehen, nichts bleibt verborgen. Und deshalb neigen wir zur Ehrlichkeit. Ist das vielleicht langweilig?«
Nach dem Spaziergang ging ich in mein Zimmer, öffnete meinen Koffer und nahm das Wenige heraus, was ich mitgebracht hatte. Immerhin aber war darunter Pearce’ »Futtersack«-Tasche mit dem Büchlein De brutorum loquela darin, und angesichts der
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