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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Länge des Raums einnahm, zog aber kein Buch zum Lesen aus den Regalen, sondern saß nur da und atmete unsichtbare Wörter.
    Und da musste ich mit einem Mal wieder an Margarets Aufforderung denken, ich solle mit dem beginnen, was sie »das Wagnis des Schreibens« genannt hatte, und ich wusste, dass es das war, was ich sehnlichst zu tun wünschte. Vielleicht, dachte ich bei mir, ist das sogar der Grund für meineReise. Ich bin nicht nur hierhergekommen, um Louises Liebhaber zu werden, sondern um meinen Verstand zu einem echten Werk zu zwingen, und dieses Werk wird mein ganzer Trost sein und eine nützliche Vorlage für meine Zukunft.
    Als Louise erschien, saß ich – regungslos wie ein Schauspieler in einem lebenden Bild – am Bibliothekstisch. Das Licht im Fenster war golden vom nahenden Sonnenuntergang.
    Sie führte mich nach draußen, zu einer entzückenden Terrasse, wo der Baron sich bei einem Glas Wein erquickte, Constanza lag zu seinen Füßen.
    Ein Lakai schenkte uns Wein ein. Direkt hinter der Terrasse standen einige Haselsträucher, in denen zwei Spatzen lebhaft herumhüpften und tschilpten, und das Geräusch dieser Vögel in der milden Abendsonne schien mir außerordentlich schön, fast als könne, solange ihr Gesang dauerte, nichts an unserer Welt verkehrt sein.
    »Und? Was habt Ihr Euch in der Bibliothek zum Lesen ausgesucht?«, fragte der Baron. »Vielleicht seid Ihr ja gar nicht über A hinausgekommen: Äsops Fabeln? Aristoteles’ Dialektik? Aubreys Leben? «
    »Nein«, erwiderte ich, »nicht über A hinaus. Oder nicht einmal so weit. Dennoch spürte ich die Macht der Bücher sehr stark. Und das schien zu genügen …«
    »Ach ja? Aber Ihr dürft die Bibliothek gern so benutzen, als wäre es Eure eigene. Bitte leiht Euch doch alles, was Ihr wollt, dort aus.«
    »Vielen Dank, Baron.«
    »Der Winter ist nicht mehr weit. Es wird hier um das Château herum sehr viel Schnee geben. Wenn wir alle unsere Arbeit haben, werden wir ihn tapfer und standhaft ertragen, n’est-ce pas , Louise?«
    »Ja. Und ich wollte dir schon berichten, Vater, dass ich an einem Präparat arbeite, das die Fliegen davon abhalten wird, dich zu belästigen.«
    Der Baron griff sich an die kahle Stelle über den zerzausten Gänseblümchenblättern seiner weißen Haare. »Geißel meines Daseins, die Fliegen. Ich schwitze nämlich auf dem Kopf, und sofort sind sie da, um die Feuchtigkeit zu schlürfen.«
    »Ich könnte Euch eine Perücke leihen, Sir …«, sagte ich.
    »Ach, Perücken. Das ist eine eitle Mode, die mir, ich bitte um Verzeihung, Merivel, gar nicht gefällt. Dabei ist Eure sehr hübsch und sauber. Aber der Gedanke an diese Tonne modernder Locken auf meinem Kopf … etwas in mir rebelliert dagegen.«
    In diesem Augenblick flog einer der Spatzen aus dem Haselgebüsch ins Gras, wo er herumzupicken begann. Ich beobachtete ihn eine Weile, beneidete die Vögel darum, dass sie keine Kleiderfragen lösen mussten, und es dauerte keine Sekunde, da war es mit dem Vogel vorbei. Ein großer Sperber schoss aus der Luft herab und trug ihn in seinen Krallen davon.
    Alle drei starrten wir auf das Gras, wo der Vogel eben noch gewesen war. Sein Gefährte kam aus dem Gebüsch angeflogen und landete zwischen den herabgefallenen Blättern, sah sich um, hüpfte hierhin und dahin. Wir sahen ihm traurig zu. Er flog zurück auf den höchsten Ast des Busches, wippte hin und her und versuchte herauszufinden, wohin sein Gefährte verschwunden war. Dann begann er verzweifelt zu rufen: »Tzip-tzip, tzip-tzip …«
    Dieser Ruf klang sehr anders als das fröhliche Tschilpen, das wir zuerst gehört hatten. Es war ein Trauergesang. Wir lauschten stumm, und Constanza begann klagend zu jaulen.
    Der Baron streichelte die Ohren der Hündin, um sie zu beruhigen, und sagte: »Wer wird denn, wenn er dies hier gesehen und die Klage des Vogels gehört hat, noch sagen können, Tiere hätten keine Seele? Schreibt Aristoteles in seinem De anima nicht: ›die Stimme aber ist ein Ton von Beseeltem‹? Wollt ihr etwa behaupten, es sei nicht die Seele, die diesen Ruf hervorbringt?«
    »Nein, das behaupte ich nicht«, sagte ich.
    »Und ich behaupte, dass wir es nicht wissen«, erklärte Louise.
    Wir speisten zu Abend und gingen zu Bett. Ich kleidete mich aus, wusch mich und zog ein sauberes Nachthemd an. Dann lag ich zwischen meinen Leinentüchern und horchte auf die Eulen in den Tannen und auf das Rauschen des Sees in der Ferne.
    In meinem Kopf brodelte es. Auch wenn ich in

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