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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Ferne kann ich das Meer hören, das sich an den Ufern Frankreichs bricht.
    Meine allerliebste Margaret, schreibe ich,
    nun habe ich mich wahrhaftig auf diese große und exotische Reise begeben. Doch glaube nur nicht, dass ich, weil ich so fern bin, nicht auch an Papageientaucher denke …

5
    Meine Kutschfahrt nach Versailles dauerte lange, und während ich so über die von keinem Sonnenstrahl beschienene graue Straße fuhr, vorbei an armseligen Dörfern und Hütten, fiel es mir angesichts des vielen Elends um mich herum schwer zu glauben, dass ich auf dem Weg zu der großen Ungeheuerlichkeit war, die der König mir beschrieben hatte. Doch dann entsann ich mich, dass das Wort »Ungeheuerlichkeit« zwei Bedeutungen enthält: In der ersten meint es »Unvorstellbarkeit« und der zweiten »Vermessenheit«.
    Seine Majestät hatte in seinem Schreiben darum ersucht, dass mir Kost und Logis im Schloss geboten werde, doch während der ermüdenden Stunden der Reise dachte ich bei mir, dass alles davon abhing, ob ich dieses Schreiben König Louis überhaupt persönlich übergeben konnte. Und meine Kenntnisse von Whitehall genügten, um mir in Erinnerung zu rufen, dass Bittsteller mit ihren Bittbriefen, an die sie sich klammern wie an kleine Flöße auf einem windgepeitschten Ozean, häufig tagelang ohne Schlaf und Nahrung in den königlichen Fluren warten mussten. (Es wird sogar berichtet – ich selbst habe es nicht gesehen –, dass einige so lange warteten, dass sie dort starben , und das ist, wie mir scheint, so jammervoll, dass es in einem nur hilflose Heiterkeit weckt.)
    Ich versuchte, mir alle pessimistischen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, als ich endlich merkte, dass wir uns dem Palast näherten. Als Erstes hörte ich ein sehr lautes Hämmern und Klopfen. Ich öffnete das Fenster der Kutsche, und der Lärm wurde gewaltig, und ich roch, dass die Luft voller Staub war, worunter sich noch ein morastiger Gestank mischte. Dann erblickten wir die Quelle all dessen: ein weites ebenes Gelände, in dem eine große Anzahl Steinmetze sich mit Granitblöcken und Blöcken aus weißem Marmor abplagte und Zimmerleute Holz bearbeiteten und all diese schweren Werkstoffe in Karren geladen wurden, gezogen von Pferden und Mauleseln.
    Diese Ebene erstreckte sich bis weit an den östlichen und westlichen Horizont, und überall wurde unter großen Mühen gearbeitet. Es müssen wohl an die fünfhundert Männer und hundert Pferde dort auf dem Gelände gewesen sein, das sehr feucht zu sein schien, denn die Räder der Karren sanken immer wieder ein, und wie die Tiere sich mühten, die Karren zu bewegen, war ein Bild des Jammers. Gottlob habe ich nie ein Schlachtfeld gesehen, doch ein solches kam mir bei dem Anblick in den Sinn: Als hätte sich Blut mit der Erde vermischt, um sie schwer zu machen. Und überall waren zerbrochene und fortgeworfene Dinge verstreut: Leitern und Räder und Deichseln und auch Pferde, die still und wie tot im Schlamm lagen.
    Ich starrte blöde auf dieses Panorama. Und ich glaubte wahrhaftig, das Wirken des königlichen Verstandes vor mir zu sehen. Obgleich Versailles schon stand, umkränzt von universellem Ruhm, wünschte König Louis es sich offenkundig noch großartiger. Er war noch nicht fertig mit der Natur, sondern zerrte an ihr, wie die römischen Kaiser, um ihr unvorstellbare, nie zuvor gesehene Wunder zu entreißen.
    Ich dachte an die sechsunddreißigtausend Seelen, die diesem Unternehmen schon ihre Arbeit geschenkt hatten, und ich fragte mich, wie groß die Zahl hier sein mochte und wie groß sie noch werden würde und wie viele schon zugrunde gegangen waren. Und ich dachte, wie glücklich ich mich doch schätzen konnte, dass ich in England ein Leben verhältnismäßiger Behaglichkeit führen durfte und mir nicht hier in dieser schwarzen, übelriechenden Ebene als Steinmetz die Muskeln verderben musste, jetzt wo der Winter nahte.
    Ich wandte den Blick ab. Ich studierte ein weiteres Malmeinen Brief. Jenseits der Ebene begann ein steiler Abhang, den unser Gefährt nun mühsam erklomm, und dann, siehe da, lag er vor mir, der großartige, wunderbare Palast.
    Ich gestehe gern, dass er mir den Atem raubte. Im Nu waren die Leiden der Steinmetze vergessen. Alles war vergessen. Denn hier bot sich mir ein Ensemble von Gebäuden dar, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich habe Mühe, es in schlichten Worten zu beschreiben. Was ich vielleicht am ehesten sagen kann, ist, dass das Ganze in seiner wundersamen horizontalen

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