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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Griff klammerte ich mich deshalb an diesen Surintendent . Denn ich hatte den Eindruck, dass im Gegensatz zu der erlesenen Akkuratheit der Fassaden von Versailles im Inneren der Gebäude ein verheerendes Chaos herrschte. Ich begriff gar nicht mehr, weshalb ich mich an diesem Mann festhielt wie ein Desperado , entschlossen, ihn zu gewinnen, denn ich war überzeugt, dass nur einer, der sich Surintendent nannte, über Mittel verfügte, um mich von der großen Last meiner Verwirrung zu befreien.
    »Monsieur!«, rief ich, griff wieder nach meinem Brief und hielt ihn ihm hin, »ich zähle auf Ihre Hilfe.«
    »Wer seid Ihr?«, fragte der Mann und entwand seinen Arm geschickt meinem Griff.
    Ich nannte ihm, so ruhig ich konnte, meinen Namen, bezeichnete mich aber als Chevalier Robert Merivel, für den Fall, dass »Sir« für ihn keine Bedeutung hatte, und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das königliche Siegel auf dem Brief, das er zu meiner großen Bestürzung sofort erbrach.
    »O nein!«, rief ich. » Non, Monsieur! Dieses Schreiben ist ausschließlich für den König bestimmt!«
    Der Surintendent schenkte meiner Verzweiflung keinerlei Beachtung, sondern hielt sich das Schreiben dicht vor die Nase, um es zu lesen. Der Brief ist kurz, doch dessen Lektüre schien ihn viele lange Minuten zu kosten. Dann blickte er auf und betrachtete mich ungläubig.
    »Ein Arzt?«, sagte er. »Ihr seid ein Arzt?«
    »Ja«, erwiderte ich, »und ich hatte das seltene Glück, meiner hochgeschätzten Majestät, König Charles, zu Diensten zu sein. Deshalb empfiehlt er mich und meine Dienste hier …«
    »Ihr seht aber nicht aus wie ein Arzt.«
    »Und dennoch bin ich es. Ich übe diesen Beruf seit vielen Jahren aus. In Cambridge habe ich Anatomie studiert …«
    In diesem Moment läutete es in der Ferne zur fünftenStunde, und der Surintendent drückte mir hastig den Brief in die Hand, ohne sich dafür zu entschuldigen, dass er das Siegel erbrochen hatte, und wollte sich entfernen. Doch ich hielt ihn an seinem Arm fest.
    »Bitte, Monsieur«, sagte ich, »bitte sagen Sie mir, wo ich logieren kann. Meine Reise war lang, und ich bin sehr müde.«
    »Ich bedaure«, sagte der Surintendent , »doch ich muss jetzt gehen. Ich werde andernorts gebraucht und habe mich in der Tat schon verspätet, wie mir das Fünfuhrläuten sagt. Was das logement anbetrifft, so müsst Ihr euer Glück in den oberen Stockwerken versuchen. Versailles ist zurzeit sehr überfüllt, wie Ihr selbst seht. Am ehesten habt Ihr eine Chance, wenn Ihr jemandem, der bereit ist, sein Eckchen mit Euch zu teilen, Geld zahlt.«
    »Was? Was sagen Sie da, ›ein Eckchen‹?«
    Der Mann zuckte mit seinen mageren Schultern. »Etwas Besseres werdet Ihr kaum bekommen«, sagte er. »Selbst ein Marquis muss hier manchmal auf dem Gang schlafen.«
    Jetzt ist es Nacht.
    Ich liege auf einer schiefen Pritsche in einem kalten Dachzimmer. Ein Wandschirm aus Leinen schenkt mir ein wenig Ungestörtheit, der übrige Raum wird von einem niederländischen Uhrmacher benutzt, dem ich drei englische Schillinge gab, damit er sein Zimmer und seinen Nachttopf mit mir teilt. Er schläft in einem schmalen Bett und schnarcht wie ein Schwein.
    Ich habe meine Koffer geöffnet – sie standen noch dort, wo ich sie gelassen hatte –, um mich wenigstens mit Nachthemd und Schlafmütze zu versorgen, und habe nun beides angezogen, doch es gibt nichts, wo ich meine Kleider aufhängen oder meine wenigen Habseligkeiten unterbringen könnte, nur dieses Eckchen in einem sehr kleinen Zimmer unter den bleiernen Dachplatten des Grand Commun .
    Ich falle in einen unruhigen Schlaf und wache, wie es mir scheint, sofort wieder mit einem nagenden Hunger auf, der vom Stadium des Verlangens in das Stadium solch heftiger Qualen übergewechselt ist, dass ich schreien könnte. Und mit einem Mal denke ich, dass dies die Art von Hunger ist, die Will Gates erleiden müsste, sollte er aus Bidnold vertrieben werden, und ich weiß, dass ich das – um keinen Preis – zulassen darf. Und so schwöre ich es hiermit.
    Meine Gedanken wandern wieder zu der Küche unten im Haus. Der Uhrmacher hat mir berichtet, dass alle Gerichte, die dort zubereitet werden, zu den Grands Appartements gehen, wo der König und seine Entourage sie in großen Mengen verzehren. Niemand, erklärt er mir, der im Grand Commun wohne, werde jemals verköstigt, einfach weil der König diese Ausgaben für unangemessen hoch hält.
    »Wie sollen wir dann überleben?«, frage

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