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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich.
    Anstelle einer Antwort öffnet der Niederländer (dessen Haut sehr rosig und gesund wirkt, dessen Kinnlade jedoch mit dem fortwährenden Mahlen der unteren Backenzähne auf den oberen beschäftigt zu sein scheint) eine hölzerne Kiste, die er mit sich führt, und zeigt mir deren Inhalt, der aus einer Anzahl von Marmeladengläsern und Tüten mit Hafermehl besteht. Davon lebe er, sagt er zu mir. Dazu trinke er Wasser aus den Brunnen im Garten. Seit zehn Tagen versuche er, sich eine Audienz bei Madame de Maintenon zu verschaffen, der Mätresse und Vertrauten des Königs, da er ein entfernter Cousin ihres verstorbenen Gatten, des Dichters Scarron, sei und sie angeblich eine große Bewunderin niederländischer Uhren. Doch bis jetzt habe sie noch nicht »die Muße« gehabt, ihn zu sehen.
    »Ich werde es morgen wieder versuchen«, sagt er. »Und übermorgen.«
    Ich besitze weder Marmelade noch Hafermehl und kann den Niederländer doch nicht bestehlen. Aber nun hat sich zu meinem Hunger noch ein entsetzlicher Durst gesellt, undich weiß, dass ich hier keinen Moment länger liegen bleiben kann. Ich muss versuchen, Nahrung und Wasser zu finden.
    Ich nehme die Schlafmütze ab und setze die Perücke auf. Ich ziehe meine fleckigen Kniehosen, den staubigen Rock und meine Schuhe an, die von dem Versuch, in der rüttelnden, schaukelnden Kutsche die Füße auf dem Boden zu halten, sehr mitgenommen sind.
    Mit einem Talglicht trete ich hinaus auf den Korridor, der hier und da von Menschen versperrt ist, die auf Strohbetten schlafen, wie die Verrückten in Whittlesea. Ich steige über sie hinweg und stehe nach langer Suche und manchem Irrweg endlich wieder in dem Gang im Erdgeschoss vor der Tür zur Küche.
    Ich drehe den Knauf. Ein köstlicher Duft nach gebratenem Fleisch hängt immer noch in der Luft, und ich bin sicher, dass ich mir einen kalten Kaninchenschenkel schnappen kann, der die Pein in meinem Magen stillt. Doch die Küchentür ist verschlossen.
    Ich setze mich auf den kalten Steinboden direkt vor der Tür. Ich reibe mir die Augen. Ich denke, dass ich nur in Whittlesea vergleichbaren Hunger gelitten habe, und selbst dort war es möglich, sich für ein kärgliches Mahl zumindest eine Schale mit Haferschleim oder Mehlsuppe zu besorgen.
    Die Gedanken an Whittlesea rufen mir Bilder meines toten Freundes ins Gedächtnis. Während ich selbst von Kindheit an gefräßig war, nahm Pearce während seines kurzen Lebens so wenig Nahrung zu sich, dass ich mich häufig fragte, wie das Fleisch überhaupt an seinen Knochen haften konnte. Einmal fragte ich ihn aus einer spöttischen Laune heraus, wie ihm das bloß gelinge, und er antwortete schlicht: »Sei doch nicht so blöde, Merivel.«
    Wie stets beruhigt mich die Erinnerung an Pearce ein wenig, und ich flüstere ihm zu: »Was soll ich tun, Pearce? Morgen spätestens werde ich tot sein …«
    Im Geiste höre ich sein krächzendes Lachen. Er hat michhäufig als einen großen Übertreiber getadelt, weil ich stets behauptete, mein Los sei viel schlimmer, als es in Wahrheit war. Jetzt bilde ich mir ein, dass er sagt: »Denk an die Leute vor dem äußeren Tor, Merivel. Denk an den Mann, der von seinen Stelzen stürzte, als deine Kutsche vorbeidrängte. Denn vielleicht hat er sich den Arm oder das Schlüsselbein gebrochen, und wer wird ihm helfen, und wo wird er sein Haupt betten können? Du hast ein Zimmer und eine Pritsche, doch er wird heute Nacht draußen auf der kalten Erde schlafen.«
    Und dann erkenne ich, dass er mir mit diesem Gedanken einen großen Dienst getan hat. Denn ich erinnere mich, dass unter diesen armen Schluckern auch Verkäufer von Brot und in Salzlake eingelegten Erbsen waren. Und ich rede mir ein, dass sie, obgleich es mitten in der Nacht ist, vielleicht noch dort sind und aus dem Schlaf geweckt werden könnten, um mir ein paar kümmerliche Lebensmittel zu verkaufen.
    Doch zwischen mir und dieser einzigen Hoffnung auf Nahrung liegt die endlose Fläche der Place d’Armes , und die Vorstellung, dass ich sie in Kälte und Dunkelheit überquere, nur um festzustellen, dass die Höker alle verschwunden sind, erfüllt mich mit Kummer. »Ich Unglücklicher«, sage ich bei mir, »ich werde bis zum Morgen hierbleiben müssen, daran ist nichts zu ändern.«
    Doch als drängte der Geist von Pearce mich dazu, stehe ich plötzlich auf und gehe hinaus. Reglos im Mondlicht erduldet eine Phalanx Schweizer Garden, deren dichte Schatten wie gestürzte Statuen auf den Kies der Place

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