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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ergangen? Hat Madame die Uhr an ihren Busen gedrückt? Ist Eure Zukunft gesichert?«
    Hollers stieß einen langen Seufzer aus und griff nach der Kiste mit dem Hafermehl und der Marmelade. Er begann, sich Marmelade in den Mund zu schaufeln, und schüttelte dabei den Kopf.
    »Ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll, Merivel«, sagte er endlich.
    »Wie meint Ihr das?«, fragte ich.
    »Seht doch nur die Marmelade. Sie geht zu Ende.«
    »Das ist meine Schuld. Ich habe zu viel davon gegessen.«
    »Nein, nein. Dafür habt Ihr Eure Erbsen mit mir geteilt. Aber wie lange werden wir beide überleben können?«
    »Hat Madame de Maintenon die Uhr denn nicht bewundert?«
    »Sie sagte, dass das Gehäuse der Uhr ›sehr hübsch‹ sei. Aber sie sagte auch, dass sie nichts auf der Welt nur nach seinem äußeren Anschein beurteile; ich solle eine Zeitlang warten (sie sagte nicht, wie lange), währenddessen wolle sie sehen, ob die Uhr auch akkurat arbeite. Sie erwartet, dass die Zeit, die sie anzeigt, nicht mehr als eine Minute pro Tag von der großen Uhr der Kapelle abweicht, ganz gleich, ob sie nun zu schnell oder zu langsam gehe. Sie sagte, wenn meine Uhr sich nicht an ›Gottes Zeit‹ halte, sei sie ihr nicht von Nutzen.«
    »Nun ja«, sagte ich, »aber ich sehe hier doch einen deutlichen Fehler, mein Freund. Angenommen, Euer Zeitmesser ist akkurater als die schwerfällige Kapellenuhr mit all ihren Zahnrädern und Ankerhemmungen? Wie würde sie das feststellen wollen?«
    »Das würde sie nicht können. Sie glaubt, die Kapellenuhrsei der unfehlbare Lenker der Zeit, und würde niemals zugeben, dass ihr Mechanismus vielleicht einen Fehler aufweist. Meine Uhr muss mit jener im Einklang sein, sonst bin ich verloren.«
    Es blieb uns keine andere Wahl, als weitere Tage verstreichen zu lassen, in deren Verlauf Hollers’ Erregung immer spürbarer wurde und sich nur ein wenig legte, als wir eines frühen Morgens glücklicherweise ein Badehaus hinter dem Pavillon der Schweizer Garden entdeckten, in dessen dampfendes Wasser wir unsere stinkenden, verdreckten Körper tauchten, um uns mit kindlicher Freude einzuseifen und abzuspülen.
    Ich versuchte Hollers davon zu überzeugen, dass unsere plötzliche Sauberkeit eine Wende in unserem Schicksal ankündige, doch der Kummer des Niederländers legte sich nur für die Dauer unseres Bades, und als wir in die kalte Luft hinaustraten, sackte er in einer Haltung der Verzweiflung in sich zusammen.
    Ich wiederum sah die Gelegenheit gekommen, die feinsten Kleider anzulegen, die ich mitgebracht hatte (in einem schmeichelnd zarten Taupe und mit kostbaren silbernen Brustschnüren verziert), und mein Glück bei einer Promenade in der Galerie des Glaces zu versuchen. Ich bürstete meine Perücke ebenso sanft wie gründlich (wie meinen Lieblingsspaniel, wenn er von einem Schnüffelabenteuer im Park von Bidnold zurückkehrt), strich diskret ein wenig Rouge auf meine Wangen, nahm meinen Gehstock und machte mich auf den Weg.
    In der Galerie des Glaces schien die Sonne durch jedes der siebzehn Fenster und wurde von den hundert Spiegeln auf eine Weise zurückgeworfen, dass ich den Eindruck hatte, in einen kolossalen Diamanten eingesperrt zu sein, dessen Helligkeit meine Augen tränen ließ. Ich bemühte mich um einen eleganten Gang, indem ich die ausholenden Schritte von König Charles nachahmte (wenn auch mit etwas kürzerenBeinen und einem dickeren Bauch), erntete aber nur belustigte Blicke von den anderen Höflingen, die dort promenierten.
    Ich zog meinen Bauch ein und schlenderte weiter, jeden Augenblick gewärtig, dass eine gewisse Unruhe das Erscheinen des Königs ankündigen konnte; doch schließlich wurde mir der Weg entschieden durch eine Schar von Stutzern verstellt, die mich umringten und in vielstimmiger Harmonie auszulachen begannen.
    Einer der Kavaliere stupste mich an der Schulter, wie es mir schon einmal widerfahren war, während ein anderer sich bückte und erdreistete, mir ans Knie zu greifen.
    »Messieurs«, sagte ich. »Wieso haltet Ihr mich in so unhöflicher Weise auf? Bitte erklärt es mir.«
    »Ach«, sagte einer, »wollt Ihr etwa behaupten, Ihr wisst es nicht?«
    »Nein. Ich fürchte, ich weiß es nicht.«
    »Er weiß es nicht!«, kreischte der Mann, der mich am Bein festhielt. »Er muss aus einem anderen Land kommen! Vielleicht ist er vom Mond!«
    Noch mehr Gelächter erscholl im Diamanten und wurde von seinen tausend Facetten zurückgeworfen. Ich hob die Hände in einer Geste der

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