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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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bewege ich mich in guter, lebhafter Gesellschaft. Aber die meiste Zeit des Jahres bin ich allein.«
    »Ach«, sagte Louise leise, und wir spazierten weiter. Wir bogen in eine Allee mit Platanen ein, die ihre großen Blätter schon abgeworfen hatten, an den kahlen Zweigen hingen nur noch die Fruchtstände wie matt gewordener Schmuck. Und in diesem Augenblick nahmen wir beide ein seltsames Geräusch wahr, einen kläglichen, heulenden Lärm, der uns von großem Unglück zu künden schien. Wir gingen bis ans Ende der Allee, wandten uns nach links, kamen zu einer Wiese und sahen vor uns etwas sehr Trauriges.
    In einem viereckigen Käfig aus Ulmenästen stand ein großer Braunbär auf seinen Hinterläufen, kratzte am Holz undheulte wie ein Wolf. Im geöffneten Maul war seine ausgedörrte Zunge voller Geifer zu sehen, und das Geräusch, das aus seiner Kehle kam, war so verzweifelt – in meinem ganzen Leben hatte ich so etwas noch nicht gehört.
    Wir blieben stehen und starrten nur. Louise berührte meinen Arm, und ich nahm ihre Hand in meine.
    »Ich weiß, wo er enden wird«, sagte sie.
    »Ich auch. In der Menagerie von Versailles.«
    Wir standen sehr still, das Elend des Tiers lähmte unsere Sinne – alles, was wir rochen, war sein Entsetzen, alles, was wir atmeten, war sein Schmerz, und alles, was wir in unseren Kehlen fühlten, war sein Durst.
    Ich spürte, wie Louises Hand in meiner zitterte. Ich zog sie fester an mich, und um Louise zu beschwichtigen, begann ich, sehr ruhig die Geschichte eines benachbarten Gutsherrn in Norfolk zu erzählen, eines gewissen Squire Sands, der das Shire-Pferd, das seinen Pflug zog, so erbarmungslos schlug, dass es an seinen Wunden starb.
    »Squire Sands hatte kein Geld«, fuhr ich fort, »um sich einen neuen Gaul zu kaufen. Ein ganzes Jahr lang blieben seine Felder dem Unkraut überlassen. Doch als er begriff, dass er verhungern würde, wenn er kein Korn und Gemüse anbaute, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst vor den Pflug zu spannen. Und ich sah ihn einmal in seiner Rolle als Pferd, wie er Herz und Lunge anstrengte, um sein eigenes Land zu bestellen. Und für einen Augenblick hatte ich Mitleid mit ihm. Doch dann dachte ich wieder an das, was er der Shire-Stute angetan hatte, und sofort war mein Mitleid verflogen.«
    Louise schwieg eine Weile. Dann wandte sie sich um, blickte mich an, legte die Arme um mich und küsste mich auf den Mund.

8
    Vierundzwanzig Stunden sind vergangen: Stunden voller aufwühlender Gefühle.
    Während Louise und ich am Mittag in einer vortrefflichen Auberge Austern speisten, uns die Finger ableckten und säuberten und unsere salzigen Kehlen mit einem köstlichen Wein aus dem Loiretal kühlten, neigte Louise sich zu mir herüber und sagte: »Ich möchte Ihnen gern ein wenig über mein Leben erzählen, Sir Robert. Oder hielten Sie das für sehr dreist?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Es würde mich ehren, aus Ihrem Leben zu hören …«
    Louise nippte an ihrem Wein, wischte sich den Mund und flüsterte: »Ich möchte Sie wissen lassen – selbstverständlich in strengster Vertraulichkeit –, dass meine Ehe mit Oberst Jacques-Adolphe de Flamanville, der als tapferer Soldat selbstverständlich meinen Respekt verdient, so verdorrt ist wie ein leerer See.«
    »Oh, das höre ich mit Bedauern –«
    »Wir haben keine Kinder. Ich wäre gerne Mutter geworden, aber de Flamanville sagte stets: ›Sie können keine Mutter sein, solange ich nicht bereit bin, Vater zu sein, und das werde ich nicht.‹«
    Ich berührte Louises Hand. »Das tut mir leid«, sagte ich. »Denn ich weiß, wie kostbar ein Kind sein kann …«
    »Ich glaube, ich wäre eine liebevolle Mutter geworden, Sir Robert, aber nun ist es zu spät. Meine chemischen Versuche, so dilettantisch sie sein mögen, verleihen meinem Leben ein wenig Sinn, aber das Gleichmaß der dahingehenden Jahre hat mich müde werden lassen. Ich liebe Paris; Versailles ertrage ich kaum. Doch es kann sein, dass ich sowohl Paris wie Versailles bald verlasse und in die Schweiz zurückkehren werde, um für meinen Vater zu sorgen, der alt und einsam ist. Ich bin sein einziges lebendes Kind und ihm sehr zugetan, und ich möchte nicht, dass er einsam stirbt. Jacques-Adolphe wird protestieren, aber vermissen wird er mich nicht, allenfalls als seine gesellschaftliche Tarnung.«
    »Seine Tarnung?«
    »Er legt großen Wert darauf, auch wenn ich kaum begreife, weshalb. Es gibt in Versailles eine Gesellschaft, die sich Fraternité

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