Adieu, Sir Merivel
sich ihm niemals eine Frau verweigerte oder seiner Umarmung entzog. Sie sanken vor ihm danieder wie Narzissen unter der Sense. Anstatt sich allein in seinem Bett zu kratzen wie ich jetzt, läge er schon längst bei Louise de Flamanville.
Und weitere Überlegungen bestürmten mich. War es möglich, dass Louise, nachdem sie den Anfang gemacht und mir sogar von ihren früheren Liebhabern und der großen Unzulänglichkeit ihres Gatten berichtet hatte, mir jetzt gewissermaßen den Taktstock übergab, damit ich den nächsten Satz unseres kleinen privaten Musikstücks dirigierte?
Sie war eine Person großer Intelligenz und Finesse. War es also nicht sehr wahrscheinlich, dass sie, als sie sich gedrängt sah, mich zu einer körperlichen Vereinigung aufzufordern, die womöglich weitreichende Folgen für uns beide haben würde, sich in ihrem weiblichen Empfinden zu sehr unter Druck gesetzt fühlte? Der einzige Ausweg in diesem Fall war, dass ich handelte.
Ich lag sehr still und horchte auf die Geräusche der Pariser Nacht, die viel ruhiger schien als die Nacht in London. Ich fühlte mich recht müde, und die eine Hälfte meines Verstandes riet mir, umstandslos und ohne viel Aufhebens einzuschlafen. Aber die andere Hälfte konnte nicht umhin, sich vorzustellen, wie es wäre, in Louises Armen zu liegen; und wenn ich tatsächlich ihr Liebhaber werden könnte, würden die folgenden Tage eine einzige Abfolge unendlicher Wonnen.
Ich war schon im Begriff, mich zu erheben und auf den Weg zu Louises Zimmer zu machen, als mir plötzlich einfiel,dass ich mich, falls sie mich abwiese, noch schlechter fühlen würde, als wenn ich sie gar nicht erst aufgesucht hätte. Darum versuchte ich nun, im Geiste das eventuell Schlechtere gegen die Möglichkeit abzuwägen, dass sie, während ich hier lag und mich nicht rührte, tatsächlich auf mich wartete und sich sehr verletzt und gedemütigt fühlen würde, wenn ich nicht käme …
Und während mir diese beiden Möglichkeiten endlos im Kopf herumgingen, schlief ich ein.
Ich erwachte in der ersten Dämmerung des frühen Morgens. Ich hörte eine einsame Amsel singen.
Ohne jede Angst oder Besorgnis und ohne jedes Zögern erhob ich mich, trank etwas Wasser, um meinen Mund zu erfrischen, zog meinen Rock über das Nachthemd, öffnete meine Tür und machte mich auf den Weg zu Louises Zimmer.
Ich öffnete ihre Tür. Sie schlief. Die Kerze neben ihrem Bett brannte noch, war aber kurz davor zu verlöschen. Louises braune Haare lagen in weichen Wellen ausgebreitet über ihrem Kissen, und ihre Lippen umspielte ein feines Lächeln. Ich stand über sie gebeugt und bewunderte ihre Ruhe und ihre Schönheit, und da öffnete sie die Augen. »Ach, Merivel«, sagte sie. »Ich bin so froh, dass Sie verstanden haben.«
Die Freude, die ich für mich als Liebhaber von Louise de Flamanville erhofft hatte, erfüllte mich tatsächlich sofort, als ich sie in den Armen hielt und spürte, dass sie all meine Leidenschaft erwiderte.
Wie selten, dachte ich, ist doch die Inbrunst zweier Liebender gleich stark; immer ist da einer, der mehr fühlt. Doch Louise und ich genossen unser Vergnügen in köstlich übereinstimmender Weise, waren weder hastig noch langsam, sondern, jeder für den anderen, einfach nur stark und zärtlich, während wir uns Worte leidenschaftlicher Zuneigung zuflüsterten.
Später sanken wir in eine Ohnmacht der Liebe. Eng umschlungen, schliefen wir ein wenig, erwachten wieder, Amseln sangen laut, und ein kaltes, graues Licht schien durchs Fenster.
»Du musst gehen«, flüsterte Louise. »Bald melden sich die Bediensteten. Und Corinne …«
Doch ich konnte nicht gehen, ehe ich sie nicht noch einmal geliebt hatte, dieses Mal sehr leise, aus Furcht, den Haushalt zu stören, und sie umklammerte mich stumm, ihr Mund an meinem, und stieß nur einen erstickten Schrei aus, als sie zu ihrem Vergnügen kam.
Und erst, nachdem diese zweite wonnevolle Verschmelzung vorüber war und wir in seidigem Schweiß nebeneinanderlagen und warteten, dass unsere Herzen wieder normal schlügen, bemerkten wir einen Aufruhr unten in der Auffahrt. Ein Gespann, offenbar von vier Pferden gezogen, näherte sich.
Einen Moment lang rührten wir uns beide nicht. Dann schob Louise die Bettdecke mit einem Ausdruck des Entsetzens beiseite.
»De Flamanville!«, flüsterte sie. »Ich erkenne das Geräusch seiner Kutsche!«
Ich sprang aus dem Bett, suchte auf dem Boden nach meinem Nachthemd, fand es jedoch nicht. Auf einem Stuhl lag
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