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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Paris hielt, sollte, wie sich herausstellte, nicht ohne Folgen bleiben.
    Zwar wusste ich kaum, wie ich, da ich niemanden kannte, die Zeit verbringen sollte, außer staunend in der großartigen winterlichen Stadt herumzulaufen, doch immerhin erhielt ich reichlich Gelegenheit, über meine Lage nachzudenken.
    Diese Überlegungen fanden, zwei Tage nach meinem Auszug aus dem de Flamanville’schen Hause, hauptsächlich im Innern der Kathedrale von Notre Dame de Paris statt. Ich war das ganze Längsschiff entlanggewandert, hatte das Querhaus durchschritten und mich auf einer Steinplatte in der Kapelle der Sieben Schmerzen am östlichen Ende des Chors niedergelassen. Hier befand ich mich in Gesellschaft von Heiligen, die in blassen Freskofarben melancholisch von der Südwand blickten.
    Diese Figuren, vor schätzungsweise drei oder vier Jahrhunderten in sicherlich wunderbar lebhaften und leuchtenden Farben gemalt, waren mit der Zeit derart verblasst, dass sie mir die Vergänglichkeit eines jeden Lebewesens zu verkörpern schienen – trotz all der Versuche, ihnen durch die Kunst ewiges Leben zu schenken. Denn: Die Jahre vergehen, und wir stellen fest, dass, wie durch einen unheimlich geräuschlosen Zauber, auch die Kunst verblasst und abblättert.
    Einer der Heiligen, gekleidet in ein düsteres, braunes Gewand, erinnerte mich an Pearce. Sein Gesicht war hager, sein Ausdruck erregt. In den Händen hielt er ein großes Kreuz, das er auf genau dieselbe Art an sich presste wie Pearce einstseine Suppenkelle, als fürchtete er jeden Augenblick, ein Dieb oder Straßenräuber sönne darauf, sie zu entwenden.
    »Pearce«, sagte ich leise zu diesem Fresko, »das Leben hat mich einmal wieder in Wirrwarr und Konfusion gestürzt. Und ich weiß einfach nicht, wohin ich gehen soll.«
    Das unbewegliche Gesicht des gemalten Heiligen betrachtete mich bekümmert. In der Stille der großen Kirche glaubte ich, Pearce seufzen zu hören.
    »Soll ich nach Norfolk heimkehren?«, fragte ich meinen verblichenen Freund. »Oder soll ich auf irgendeine Weise versuchen, Louise wiederzusehen, die ich (und ich beeile mich, dies hinzuzufügen, Pearce, da ich weiß, dass du all meine Liebschaften für seicht hältst und nur von Wollust getrieben) … die ich ganz außerordentlich schätze … und von der ich einige Beweise erwiderter Zuneigung erhielt.«
    »Erwiderte Zuneigung?«, sagte Pearce. »Das bezweifle ich.«
    In diesem Augenblick kam ein junger Priester an der Kapelle der Sieben Schmerzen vorbei, und als er mich mit mir selbst reden sah, blieb er stehen und fragte: »Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann, mein Sohn?«
    »Ach«, sagte ich, »ich glaube nicht.«
    »Möchtest du die Beichte ablegen?«
    »Die Beichte?«
    »Ja. Nur wenn du möchtest.«
    Ich erzählte dem Priester nicht, dass ich im protestantischen Glauben erzogen worden war, und auch nicht, dass dieser Glaube mir nach dem schrecklichen Feuertod meiner unschuldigen Eltern abhandengekommen war. Ich behielt es für mich, weil die Vorstellung zu beichten – meine Bürde von Sünde, Scheitern und Unentschiedenheit auf die schmalen Schultern eines Mannes der Kirche abzuladen – mir aus irgendeinem Grund in diesem Moment äußerst verlockend erschien.
    Ich folgte dem Priester in den Beichtstuhl, der mich in seiner räumlichen Enge stets an eine Art Gefängniszelle oderKerker erinnert, doch ich ertrug es. Vom Sitzen auf der Steinplatte in der Kapelle der Sieben Schmerzen war mein Allerwertester kalt geworden und schmerzte, und die Holzbretter des Beichtstuhls trugen auch nicht zur Erleichterung bei. Ich geriet ins Grübeln, ob es nicht klug wäre, Beichtstühle mit Kissen auszustatten, damit die Sünder nicht versucht wären, durch ihre Verfehlungen zu hetzen oder einige gar vollkommen auszulassen, und das aus dem einfachen Grunde, weil ihnen der Arsch wehtat.
    Durch das Gitter konnte ich das Auge des Priesters sehen, das mich sehr braun und glänzend wie das Auge der Misteldrossel betrachtete.
    »Nun, mein Sohn«, sagte er. »Sprich.«
    Ich wandte den Blick von der Misteldrossel und sah auf meine Hände nieder. Ich wusste, dass ich eigentlich mit dem Bericht meiner Hauptsünde beginnen sollte, der Unzucht mit dem Weib eines anderen Mannes, doch ein plötzlich aufwallendes Gefühl der Loyalität gegenüber Louise hinderte mich daran; meine Liebschaft mit ihr erschien mir nun ebenso privat wie kostbar, und irgendwelche Priester hatten nichts damit zu schaffen.
    Stattdessen sagte ich:

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