Adieu, Sir Merivel
Röcke bis dahin nicht fertig sind …«
»Oh«, sagt er. »Eure Röcke. Welche Veränderungen werden denn vorgenommen?«
»Sie haben leider gar keine Schulterbänder …«
De Flamanville blickt mit all der Verachtung auf mich herab, die eine Giraffe einem lästigen kleinen Hund gegenüber zeigen würde, der um ihre Beine herum kläfft.
»Das ist alles?«, sagt er. »Bänder, die eingenäht werden?«
»Ja.«
»Und wieso sollte das mehr als einen Nachmittag beanspruchen?«
»Es sind nicht nur die Bänder«, lüge ich hastig. »Während meines Aufenthalts in Monsieur Durands bewunderungswürdigen Geschäftsräumen kam mir die Idee, dass man mir dort einen Rock nähen könnte, eleganter als alle, die ich besitze, und ich war so verwegen, einen in Auftrag zu geben. Montagmorgen soll ich zu meiner ersten Anprobe erscheinen.«
De Flamanville vollführt einen gewandten Stoß, schickt seinen Ball durch das Tor und schiebt meinen gleichzeitig weg. Er richtet sich auf, denkt über seinen nächsten Zug nach, durch den er mit einem einzigen Stoß das endgültige Ziel treffen könnte. Dann wendet er sich zu mir und sagt: »Und während all dieser Anproben, wo werdet Ihr da logieren?«
Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet. Ich wünschte, Louise wäre hier, um sich einzumischen und für mich zu verwenden. Aber ich weiß, dass ich mit der größtmöglichen Gefasstheit antworten muss.
»Ich gestehe«, sage ich, »dass ich dieser Frage nur deshalb keine Beachtung geschenkt habe, Monsieur, weil Eure Gemahlin mich liebenswürdigerweise einlud, hier zu logieren. Falls diese Lösung Euch in keinerlei Weise zusagt, werde ich sofort eine der anscheinend vortrefflichen Auberges beziehen, die ich am Fluss entdeckte.«
De Flamanville enthält sich einer Bemerkung, marschiert an seiner Seite des Billardtischs auf und ab und misst offenbar immer noch den Abstand seines Balls zu dem letzten Tor.
»Seid Ihr absolut sicher«, sagt er nach einer kurzen Weile, »dass Ihr tatsächlich einen Brief von König Charles besitzt?«
»Ja. Er befindet sich oben in meinem Koffer.«
»Nun denn. Vielleicht würdet Ihr so freundlich sein, ihn zu holen.«
An der Treppe, auf dem Weg zu meinem Zimmer, begegne ich Mademoiselle Corinne. Louise hat mir erzählt, dass sie niemals zum Frühstück erscheint, sondern es unter den wachsamen blinden Augen ihrer tausend Papiersilhouetten in ihrem Schlafgemach einnimmt.
»Oh«, sagt sie, während ich höflich und geduldig warte, dass sie herunterkommt. » Ihr .«
»Bonjour, Mademoiselle Corinne«, sage ich. »Ich hoffe doch, Sie haben gut geschlafen.«
»Nein, ganz und gar nicht«, sagt sie. »Ich wurde noch vor Tagesanbruch von lärmenden Menschen geweckt. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, wäre ich aufgestanden und hätte nachgeforscht.«
»Vermutlich werden Sie die Dienstboten gehört haben, die sich auf die frühe Ankunft des Obersten vorbereiteten.«
»Das bezweifele ich. Das ist doch eine faule und beschränkte Gesellschaft, die alles bis zur letzten Minute aufschiebt. Nein. Ich glaube, das wart Ihr. Die Schritte hatten einen englischen Hall.«
»Einen englischen Hall.«
»Ja. Franzosen gehen eleganter. Euereins schlappt mit den Füßen wie Pinguine. Ich hörte eindeutig einen Pinguin.«
Ich kann nicht umhin zu lachen und errege nur noch größeres Missfallen bei Mademoiselle.
»Und da ist noch etwas, Monsieur le ›Docteur‹. Ich begreife einfach nicht, was Ihr ständig so lustig findet. Ist denn das Elend der Welt nicht zu groß dafür? Habt Ihr denn nicht dem Tod von Patienten beiwohnen müssen? Wird nicht manch einer durch eben die Person verraten, die er liebt? Wurde Jesus Christus nicht ans Kreuz geschlagen?«
»Richtig«, sage ich rasch. »Aber er ist wiederauferstanden. Mein Lachen entstammt meiner Freude über die Auferstehung, die uns allen Hoffnung schenkt, mögen wir auch Sünder sein.«
Daraufhin schließt sie ihren zahnlosen Mund und sagt nichts mehr. Sie steigt die Treppe unendlich langsam herunter, aber als sie an mir vorbeikommt, sticht sie mir mit einem knochigen Finger gegen die Brust und erklärt: »Ich beobachte Euch! Darauf könnt Ihr zählen. Und Jacques-Adolphe tut es ebenfalls. Denn ich habe meinem Bruder alles erzählt.«
Nun ist meine Furcht vor der Giraffe plötzlich erwacht. Ich verfluche mein Schicksal, das mich in Liebe zur Gemahlin eines Oberst der Schweizer Garden hat entbrennen lassen. Ich weiß, dass die Verletzungen – gesellschaftliche ebenso wie
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