Adieu, Sir Merivel
und Sorgen all seiner englischen Untertanen annehmen – geschweige denn jener von Bewohnern der Niederlande. Und nun fällt mir auch ein, dass er eine Abneigung gegen die Niederländer hegt. Er hält ihre Sprache für unaussprechlich und hat mir mehr als einmal erklärt, sein niederländischer Neffe, Wilhelm von Oranien, sei ein selbstgefälliger Tugendbold.
Während der König seinen Spaziergang machte, schrieb ich eine Antwort an Hollers und bat ihn, sich standhaft zu zeigen und die Freude an seinem eigenen Tun und seiner eigenen Stadt wiederzuentdecken und nicht länger von Ruhm zu träumen.
Wie merkwürdig ist es doch, dachte ich beim Schreiben, dass der Mensch immer wieder nach Dingen von Bedeutung strebt – Dingen, die sein Leben ändern könnten –, wenn er doch im Stillen ahnt, dass, sollte sein Versuch scheitern, all seine einstige Zufriedenheit dahin wäre. Er kann die Zeit nicht zurückdrehen und da wieder anfangen, wo das Spiel begann. Die Ketten des eingekerkerten Schuldners lasten gewissermaßen auf seiner Seele und seinem Körper. Er wünscht, er hätte dieses Bestreben nie gehabt. Er nennt sich einen Narren, weil er sich überhaupt darum bemüht hat, kann aber nichts dagegen tun.
Nichts von alledem schrieb ich an Hollers. Ich erwähnte nur, dass ich wisse , welch ein guter Uhrmacher er sei, und dass ich mir sehnlichst wünschte, ich selbst besäße die Fähigkeit, mit meinen Händen etwas vergleichbar Wunderbares herzustellen. »In meinem ganzen Leben«, schrieb ich, »habe ich nie einen einzigen Gegenstand von vollendeter Schönheit geschaffen. Du schafftest viele.«
Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem zweiten Brief zu, der von Louise de Flamanville stammte.
Während ich in meinen wachen Stunden kaum Gelegenheit fand, an sie zu denken, schlich sie sich sehr oft in meine Träume, und diese Träume waren von einer seltsamen, wiederkehrenden Schönheit. In ihnen saßen Louise und ich nebeneinander in ihrem Laboratorium und brauten aus Kräutern und Mineralien Verbindungen, welche der Luft ein köstlich süßes Aroma verliehen und die wir dann auf alchemistische Weise in Arzneien von erstaunlicher Wirksamkeit verwandelten: Blinde Menschen erlangten ihre Sehkraft wieder, und unfruchtbare Frauen gebaren Kinder. Zauberkraft lag über all unserer Arbeit. Louise sagte zu mir: »Es liegtdaran, dass wir zu zweit sind. Allein vermöchten wir kaum etwas. Gemeinsam wirken wir Wunder.«
Und nun, mit der Ankunft ihres Briefes, erwachte erneut eine große Sehnsucht nach Louise in mir, und meine Stunden mit ihr in Paris kehrten in all ihrer Süße zurück. Ich dachte mit glühendem Verlangen an den Sommer, wenn ich sie vielleicht in der Schweiz besuchen würde, und diese ferne Verheißung erhielt durch ihren Brief neue Nahrung.
Sie teilte mir mit, Jacques-Adolphe habe sich einen neuen Liebhaber genommen, einen jungen Soldaten russischer Herkunft, der Petrov heiße.
Dieser Petrov, schrieb sie,
in Wahrheit noch ein bloßer Knabe, der aufs Köstlichste errötet, wenn jemand mit ihm spricht, hat meinen Gemahl derart bezaubert, dass er in seinem Verhalten nachlässig geworden ist. Er nimmt so gut wie nichts mehr wahr und ist nur noch damit beschäftigt, wann und wie er sich Petrov nähern und jene Dinge mit ihm tun kann, nach denen die Fraternité sich mehr als nach allen anderen Erfahrungen auf Erden verzehrt. So dass Jacques-Adolphe, mein lieber Merivel, als ich ihm gegenüber beiläufig erwähnte, ich würde, sobald das warme Wetter komme, in die Schweiz zu meinem Vater reisen, nur sagte: »Tu, was du willst. Nur bitte mich nicht darum, dich zu begleiten, da ich Petrov nah sein muss. Wenn ich ihm entrissen werde, sterbe ich.«
Deshalb hoffe ich, zu Beginn des Junimonats in die Schweiz zu reisen. Und wie vergnüglich würde mein Besuch dort sein, wenn ich Sie überreden könnte, mir auf das Schloss meines Vaters zu folgen. Kann eine solche Reise Sie verlocken? Oder haben Sie mich ganz vergessen? Werden wir gemeinsam auf den Almenwiesen wandeln? Der Duft geschnittenen Heus ist, wie Sie sich erinnern mögen, sehr kraftvoll und süß.
Ich saß sehr lange da mit diesem Brief und stellte mir das Heu vor. Im Geiste sah ich über dem abschüssigen Feld eine untergehende Sonne, die glühend rot den Schweizer Berggipfeln entgegensank. Louise lag im Gras, die Sonne beschien ihr Gesicht, und meine Hände liebkosten ihren weichen Hals und die Spitzen ihrer Brüste. Irgendwo in der Nähe graste eine braunäugige
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