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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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über der Brust beiseite, nahm einen sauberen Musselinlappen und wusch die Stelle, wo geschnitten werden sollte, erst mit heißem Wasser, dann mit einer Tinktur aus der Zaubernuss. Danach hob sie Violets Arm, säuberte sie dort ebenfalls und sagte: »Ihr werdet nichts spüren, gnädige Frau. Ihr werdet sehen. Im Nu ist es weg.« Nach der Reinigung legte sie ein Stück Leinen unter den Arm, band VioletsHandgelenke an die Bettpfosten und bat sie, sich so ruhig zu verhalten, wie es eben ging.
    An der Tür stand Violets Kammerzofe Agatha, ein hübsches junges Mädchen mit Grübchen, die, wie ich erkennen konnte, hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, bei ihrer Herrin zu bleiben, und dem Bedürfnis zu fliehen. Ich wandte mich an sie und sagte: »Agatha, geh nach unten und bereite den Bettwärmer vor. Nach dem Schock des Schneidens beginnen die Menschen häufig zu frieren. Ich werde dich rufen, wenn ich den Bettwärmer brauche. Bring auch Wolldecken mit.«
    Das Mädchen knickste und eilte davon. Ich sah zu Mrs. McKinley.
    »Wir sollten dem Laudanum noch etwas Zeit geben«, sagte ich, »dann fangen wir an.«
    Mrs. McKinley setzte sich eine weiße Leinenkappe auf den Kopf und rollte die Ärmel auf. Sie streichelte sanft Violets angebundene Hände, und das schien sie zu beruhigen, wir sahen, wie ihr die Augen zufielen, und hörten, wie ihre Atmung tiefer und langsamer wurde.
    Ich nahm das Skalpell. Ich wies Mrs. McKinley an, ihre Brust zu pressen und die Haut für den Schnitt zu spannen. Während sie presste, schien das Ding sich zu vergrößern, und ich entdeckte jetzt, dass ein kleiner Auswuchs bis in Violets Achselhöhle gewandert war, und das bestürzte mich, denn ich hatte gedacht, ich würde einen sauberen runden Knubbel herausschneiden, so als entfernte ich einen Augapfel aus seiner Höhle. Nun begriff ich, dass mein Skalpell einen zweiten und dann noch einen dritten Schnitt würde machen müssen.
    Mrs. McKinley sah es auch. »Ich glaube, es ist mehr, als es zu Anfang schien, Sir Rabbit«, flüsterte sie. »Seht nur. Und Ihr werdet alles herausnehmen müssen.«
    Ich holte tief Luft. Ich kann nie in den Körper eines Menschen schneiden, ohne daran zu denken, wie tief ich mit dem Messer einst in Katharinas Körper eindringen musste, umMargaret zu entbinden. Infolgedessen bleibe ich mittlerweile ruhig, denn ich weiß, dass mir nichts mehr solch tiefe Angst einjagen kann wie jene Operation damals.
    Ich machte zwei schnelle kreuzförmige Schnitte in die Mitte der Geschwulst. Es floss nicht viel Blut. Ich klappte die Haut zurück und prüfte, wie tief ich gehen müsste, um den ganzen Tumorklumpen herauszuholen, der weiß war mit blauroten Flecken und für mich wie ein Meerestier aussah, das sich in einem Gezeitentümpel an einen Stein klammert.
    Violet hatte zu stöhnen begonnen. Mrs. McKinley redete leise mit ihr und sagte, das Schlimmste sei gleich vorüber.
    Ich begann mit dem Schneiden. Die Klinge fuhr tief hinein, schnitt am Rand des Geschwürs entlang. Mrs. McKinley tupfte mit ihren Musselintüchern das hervortretende Blut auf. Jetzt begann Violet in ihrer Qual laut zu wimmern, ihr Körper bewegte und bog sich, so dass meine Hand zuckte und die Klinge tiefer eindrang, als ich beabsichtigt hatte. Violet schrie. Der Schrei war so laut und erschütternd, dass ich das Gefühl hatte, das Hörvermögen hätte sich plötzlich vor das Sehvermögen geschoben und dem Auge die Sicht verstellt. Ich blinzelte. Mit einer Hand versuchte Mrs. McKinley, Violet festzuhalten, und mit der anderen tupfte sie Blut von der Wunde.
    »Wie wäre es mit einem Gebet?«, fragte ich flüsternd.
    »O ja, ein Gebet. Das mache ich, Sir.«
    Sie begann ein sehr leises Gemurmel mit Gott und bat ihn, uns Ruhe zu schenken.
    Ich blinzelte erneut und drehte das Skalpell so, dass es unter dem Tumor entlangschnitt – jedenfalls hoffte ich das.
    »Ich habe ihn beinahe, Violet«, sagte ich. »Ich habe ihn beinahe heraus …«
    »Nein!«, rief Violet. »Hör auf! Mach alles wieder zu, Merivel. Mehr ertrage ich nicht!«
    »Verehrte Dame«, sagte Mrs. McKinley. »Sir Rabbit muss ihn ganz rausholen, sonst könnte er wieder wachsen.«
    »Lass ihn wachsen!«, rief Violet. »Ich bin jetzt alt und hässlich! Soll er mich ruhig ersticken und mit sich nehmen!«
    Mrs. McKinley handelte rasch und schüttete mehr Laudanum in Violets Mund, und das war es dann auch – eher als das Gebet, muss ich zugeben –, was sie beruhigte. Ich nahm das Musselintuch und tupfte und

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