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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Mrs. McKinley, mittlerweile über fünfzig und ein wenig beleibt, besaß die sanftesten, sichersten Hände, die ich in meiner Arbeit mit Krankenschwestern jemals erlebt habe. Überdies hat ihre Stimme einen besonders liebreizenden Klang, und das wirkt, wie ich häufig beobachten konnte, tröstlich auf Patienten.
    Außerdem erheitert sie mich bei meiner Arbeit, denn mit ihrem hübschen Donegal-Akzent redet sie mich stets mit »Sir Rabbit« an, und mag sie es auch noch so oft wiederholen, so zaubert das »Herr Kaninchen« doch jedes Mal ein Lächeln auf meine Lippen, und auf diese Weise wird mein Herz, auch wenn meine Finger gerade tief in blutigem Fleisch stecken mögen, von solcher Leichtigkeit erfasst, dass ich in meinem Tun fortfahren kann.
    Um Opium für Violet zu besorgen, musste ich zuerst meinen bevorzugten Apotheker, Mr. Dunn, in Norwich aufsuchen, ein Mitglied der Ehrwürdigen Gesellschaft für die Kunst und die Geheimnisse der Apotheker .
    Die Bezeichnung »Geheimnis« empfand der König als »unpassend«, als ein Wort, das nicht dort hingehöre.
    »Man wünscht sich doch in dieser Angelegenheit keinerlei Geheimnis« , konstatierte er. »Man wünscht sich im Gegenteil, dass die Kenntnisse des Apothekers auf Beweisen beruhen, zumindest theoretischen, will sagen, dass sie nicht hypothetisch sind oder gar aus dem Morast des Unwissens stammen. Ist es nicht so, Merivel?«
    Ich stimmte ihm zu. Dann erklärte der König, er sei daran interessiert, sich mit Mr. Dunn zu unterhalten und seinen Laden zu besichtigen. Also reisten wir gemeinsam in der Karosse des Königs nach Norwich, und als wir dort ankamen, umringte uns eine große Menschenmenge, denn man hatte erkannt, dass der Kutscher die Livree des Königs trug.
    Ich stieg als Erster aus und ergötzte mich an den enttäuschten Gesichtern der Menschen, als sie nur mich sahen (einen bloßen Sir Rabbit) und nicht ihren Herrscher. Doch dann streckte ich die Hand aus, und der König nahm sie und entstieg der Kutsche, trotz seines leichten Humpelns wegen jener hartnäckigen Wunde an seinem linken Bein, in elegantem Stil, und die versammelte Menge brach in Jubel aus, alle wollten den König berühren, und eine Frau legte ihm ihr Baby in die Arme.
    Ich sah Mr. Dunn in der Tür seiner Apotheke stehen. Ich hatte ihm die Ankunft des Königs nicht ankündigen können, und als Dunn seinen Herrscher erblickte, wollte er es nicht glauben, und sein Körper begann krampfartig zu zucken. Er nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf, fürchtete, seine Augen würden ihn trügen. Dann plötzlich besann er sich, bedachte seine äußere Erscheinung und sprang in sein Geschäft, um seine Perücke abzulegen und durch eine bessere zu ersetzen.
    Es verstrich einige Zeit, bis wir das Geschäft betreten konnten. Denn der König ließ sich, das Baby noch in den Armen, auf zahlreiche Gespräche mit der Menge ein, fragte nach dem Wollhandel in Norfolk und nach der Heringsflotte und musste hören, dass, »offen heraus gesagt«, die Zeiten nicht sehr gut seien, »denn den Leuten geht das Geld aus, Sire, nach den harten Winterstürmen, als die Flotte nicht ausfahren konnte und vielen Schafen der Atem im Schlund gefror von dem Eis und dem Schnee«.
    Ich sah, dass der König diesen Geschichten von toten Schafen und ungefischten Heringen sehr aufmerksam zuhörte, jedoch keine Abhilfe anbot. Alles, was ihm zu sagen einfiel, war: »Ihr müsst durchhalten. Ihr Leute von Norfolk seid aufrecht, treu und beharrlich. Wir haben jetzt Maiwetter. Es kommen bessere Tage. Ihr müsst durchhalten.«
    Als er dies sagte, drängte sich ein Mann, ein armer Fischer, durch die Menge der Bürger und zeigte dem König seine nackte Brust, die so dürftig mit Fleisch bedeckt war, dass ich nicht anders konnte als an Pearce’ Leib kurz vor dessen Tod zu denken. Der Mann schlug sich mit den Fäusten auf seine Rippen und rief: »Ich bin jetzt ein Bettler in Norwich, Sire! Seht mich an! Ich besaß ein Heringsboot in Yarmouth, doch ich verlor es in den Januarstürmen, und meinen Lebensunterhalt obendrein. Und ich habe fünf Kinder. Sagt mir, wie soll ich da ›durchhalten‹!«
    Daraufhin gab der König das Baby seiner Mutter zurück, wandte sich an mich, schnippte mit den Fingern und sagte: »Münzen, Merivel! Gib diesem armen Kerl einen Schilling oder eine halbe Krone, jetzt sofort.«
    Und während ich in meinen Taschen nach meinem Geldbeutel wühlte, sagte er zu dem Fischer: »Plötzliche Verluste sind Teil des Lebens, wie

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