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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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sagte zu ihm: ›Wir könnten eure Schau erweitern, was euch zu einem höheren Eintrittspreis verhülfe. Wir können euch fünf Geisteskranke bringen. Und sie werden kreischen und sich die Kleider zerreißen und alle möglichen verrückten Dinge vorführen, um das Publikum zu unterhalten. Und sie werden keine Entschädigung verlangen, nur Essen und Unterkunft …‹«
    »Oh, ich erkenne Daniels Erfindungsreichtum, aber …«
    »Ich weiß, was du denkst – dass sie dadurch entwürdigt würden und in den Augen der Zuschauer nicht besser als Bären wären.«
    »Nun …«
    »Natürlich hast du Recht. Und das zeigte sich dann auch, denn sie wurden in einen Käfig gesetzt, damit die Menge sich noch mehr gruselte vor ihnen, und als ich von diesem Käfig hörte, war ich sehr bekümmert. Doch wenn der Schaustellersie nicht genommen hätte, Robert, wären sie gestorben. Was meinst du? Wofür hättest du dich an unserer Stelle entschieden – für ihren Tod oder ihre Entwürdigung?«
    Ich schwieg, denn ich sah mich zu keiner Antwort in der Lage. Ich trank einen Schluck Schokolade und war froh über ihre Wärme und Süße.
    Ambrose hielt inne und sah mich flehentlich an. »Ich bitte dich, Robert, mach uns keine Vorwürfe. Bei uns hätten sie keinen weiteren Tag überleben können. Wir waren selbst sehr schwach und dünn und litten unter allerlei Gebrechen, und ich übertreibe nicht, wenn ich dies sage: Der Schausteller hat fünf Leben gerettet.«
    »Fünf Leben im Käfig«, sagte ich.
    »Ja, leider …«
    »Ich mache euch trotzdem keine Vorwürfe, Ambrose«, fuhr ich rasch fort. »Ich verstehe, dass ihr es mit jedem anderen Ausweg versucht habt. Klopft der Hunger an die Tür, muss man wohl zu äußersten Maßnahmen greifen.«
    Ich wollte gerade zu einer kleinen Rede ansetzen, dass ich am Hof von Versailles selbst Hunger erfahren hätte, erkannte aber gerade noch rechtzeitig, dass das, was ich erlitten hatte, lächerlich war im Vergleich zu dem, was die Quäker und die ihnen Anbefohlenen durchgemacht hatten, und fragte deshalb nur: »Und als alle Kranken fort waren, wohin bist du da gegangen, Ambrose? Und wohin gingen Daniel und Hannah und Eleanor?«
    »Ach«, sagte Ambrose. »Es blieb auch uns nichts anderes übrig als unsere Verwandten zu bitten, dass sie uns wieder aufnähmen. Wir schieden voneinander in großem Kummer, weil wir uns trennen mussten und weil wir in unserem Bemühen gescheitert waren, und kehrten in die Welt zurück. Ich ging zu meinem Bruder nach Ely. Und nach und nach konnte ich dort einen kleinen Handel aufziehen. Ich werde dir die Früchte meiner Bemühungen zeigen, wenn du mir deine Zeit schenkst. Sie sind draußen im Wagen …«
    In diesem Augenblick wurde die Bibliothekstür geöffnet, und Will trat ein. Er verbeugte sich vor Ambrose. Er schlurfte zu meinem Stuhl und verkündete nahezu unhörbar: »Es kam ein Bote, Sir. Vom König.«
    »Jetzt nicht, Will«, zischte ich.
    Will räusperte sich und wiederholte, nun etwas lauter: »Bitte um Verzeihung, Sir Robert, aber hier ist ein Bote von Seiner Majestät, der Euch zu sehen begehrt.«
    »Bitte ihn, zu warten, Will«, sagte ich.
    Will blickte mich an und schielte beinahe vor Verwirrung. Und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, griff er nach der Lehne einer Bank, drehte sich, derart gestützt, um und ging wieder hinaus.
    Zu meiner Bestürzung machte nun Ambrose Anstalten, sich zu erheben, und sagte: »Ich möchte dich nicht aufhalten, wenn dich eine wichtige Botschaft erwartet …«
    »Nein, nein«, sagte ich, »es ist nicht wichtig. Nur eine unbedeutende Angelegenheit, die … ähm … mit Giraffen für den St. James’ Park zu tun hat …«
    »Giraffen?«
    »Ja, darum geht es. Die Giraffen von König Louis von Frankreich. Ich war jüngst in Versailles und versprach Seiner Majestät, ihm zumindest eine für seine Menagerie in St. James’ zu besorgen. Bitte setz dich doch wieder, Ambrose, und fahr fort mit deiner Geschichte. Und Will, bitte sag dem Boten des Königs, dass die Giraffenangelegenheit bearbeitet wird, und reich ihm etwas von dieser köstlichen Schokolade.«
    Will, mittlerweile fast an der Tür, schwankte wie betrunken vor Verwirrung. Doch gehorsam ging er hinaus und machte nur eine kleine Pause, um sich seinen alten Schädel zu kratzen.
    Ich bot Ambrose noch vom Früchtekuchen an und setzte mich in meinem Sessel zurecht, um den Rest seiner Geschichte zu hören. Kaum hatte er damit begonnen, ging die Bibliothekstür erneut auf, und mein

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