Adieu, Sir Merivel
fiel beständig weiter. Es war einer dieser Sommerregen, die man kaum wahrnimmt und die dennoch die Kleider recht schnell durchfeuchten und die Lebensgeister dämpfen. Und der mehrstündige Marsch hatte mich derart erschöpft, dass ich kurz davor war, in ein Kleefeld zu sinken und darauf zu warten, dass Clarendon mich fand und mir das Herz aus dem Leib riss.
Auf diesem Feld stand eine Scheune, in der das erste Sommerheu in großen Haufen gelagert war. Und kaum dass ich diese Scheune erblickte, wusste ich, dass wir hier den Bären finden würden. Ich entdeckte die Spuren seiner Tatzen im Klee, die hierhin und dorthin führten, und dann roch ich auch, trotz des Regens, seinen Duft.
Ich brachte unseren Trupp zum Stehen. Ich befahl Patchett, seine Donnerbüchse zu laden.
Ich sagte: »Er ist hier drinnen. Beweg dich ganz langsam, dann wird er nicht auf dich losgehen. Ziel auf seinen Kopf oder auf sein Herz.«
Die Bauern hoben alle ihre Schaufeln und Mistgabeln, und Patchett brachte sein großes Gewehr in Anschlag. Dann marschierten sie im Gänsemarsch los, die Mistgabelmänner hübsch sicher hinter Patchett.
Ich stand im Klee. Ich wartete auf die Explosion der Donnerbüchse, und als sie erfolgte, spürte ich, wie sich ein Gefühl der Befreiung meiner bemächtigte. Als wäre ich vonall meinen Pflichten der Welt gegenüber – an denen ich so verheerend häufig gescheitert war – entbunden, als würde niemals mehr etwas von mir verlangt werden.
20
Ich erklärte Patchett und den anderen Männern, ich würde Clarendon gerne begraben, und bat sie, mir beim Ausheben einer Grube zu helfen. Sie sahen mich an, als wäre ich vollkommen verrückt.
»Ich bitte um Vergebung, Sir Robert«, sagte Patchett, »aber seht doch nur das Fleisch an ihm! Genug für zehn Familien. In meinem Haus haben wir seit dem Frühling kein Fleisch mehr gegessen.«
Die Donnerbüchse hatte Clarendon neben dem Herzen getroffen, die blutigen Muskeln seiner Brust freigelegt und sein linkes Vorderbein abgetrennt, aber sein Kopf war unberührt geblieben, und er lag im weichen Gras wie auf einem Kissen. Ein Auge war offen, eines geschlossen. Aus dem offenen Auge sickerte etwas Schwarzes, und ich wusste nicht, was das war, ob schwarze Tränen oder eine Absonderung aus seinem Gehirn, die durch den Schädel getropft war.
Nichts als Ratlosigkeit, dachte ich.
»Bärenfleisch wird sehr streng schmecken …«, sagte ich kraftlos zu den Bauern. »Es wird kaum genießbar sein.«
»Wir können streng schmeckendes Fleisch vertragen«, sagte Patchett. »Da macht Ihr Euch mal keine Sorgen. Ihr geht jetzt nach Hause, Sir Robert, und wir werden ihn häuten und zwischen uns aufteilen und heute Abend einen schönen Braten haben. Wir können Euch das Fell bringen, wenn Ihr wünscht, aber das Fleisch gehört uns: ein gerechter Ausgleich für das getötete Mutterschaf.«
Gegen diese Logik konnte ich nichts einwenden, obgleich mich die Vorstellung, dass Clarendon gegessen würde, mit der Welt hadern ließ: mit ihren gnadenlosen Übereinkünften.Ich sagte, ich würde den Pelz nehmen – vermutlich, weil ich gern irgendetwas von meinem Bären besitzen wollte, auch wenn das Tier nun tot war. Ich dachte, ein Gerber aus Norfolk könnte mir vielleicht einen großen Läufer machen, den ich, wenn der dunkle Winter wieder kam, auf mein Bett legen und warm und schwer auf mir spüren würde in meiner Einsamkeit.
Ich machte mich auf den Rückweg nach Bidnold, wanderte langsam durch die Obsthaine und die Kleefelder, während der Regen aufhörte und eine helle Morgensonne mir auf den Schädel brannte.
Unterwegs fiel mir ein, dass ich, müde wie ich war, doch eine dringende Pflicht zu erledigen hatte, und das war ein Brief an Louise de Flamanville, in dem ich sie bitten wollte, mich in ihres Vaters Haus in der Schweiz zu empfangen.
Diese Flucht – zu ihr und nur zu ihr – erschien mir mit einem Mal als etwas, was ich mir über alle Maßen wünschte. Ich sehnte mich danach, auf den Schwingen irgendeines mythischen Vogels dorthin getragen zu werden, ohne die glitzernden Strapazen einer Seereise, die mühselige Langsamkeit der Kutschen und die Unbehaglichkeit der Gasthäuser an der Straße. Nun, nachdem Margaret in den Fängen des Königs und mein armer Clarendon tot war, schien ich aller Dinge hier so überdrüssig zu sein, dass ich kaum noch wusste, wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden auf Bidnold und überhaupt in England anders überstehen sollte als mit einer erneuten
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