Adiós Hemingway
oder nicht? Tief in seinem Innern wusste El Conde, dass er damit nur seinen unverwüstlichen Gerechtigkeitssinn befriedigen wollte. Alles in dieser Geschichte war zu spät gekommen, und er, Mario Conde, war der Letzte, der zu spät gekommen war. Das war das Schlimmste.
Das hartnäckige Bellen schreckte ihn aus den Tiefen seiner Grübelei auf. Er zog sich eine Hose über und rief: »Ich komm schon, Alter.« Dann öffnete er die Terrassentür. »Na, guten Tag! Lange nicht mehr gesehen …« Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf Marios Schenkel, hörte aber nicht auf zu bellen. Offenbar wollte er mehr als nur Vorwürfe hören. Sein ehemals glattes weißes Fell war zu einer zähen rostbraunen Masse verfilzt. El Conde spürte es, als er Kopf und Ohren des Tieres kraulte. »Um Himmels willen, Basura, du siehst ja aus wie Sau! Liebe kann töten, weißt du das?«
Dankbar für die Streicheleinheiten leckte der Hund ausgiebig die Hand seines Herrchens. Dieses Ritual spielten die beiden seit dem Hurrikan, als sie sich auf der Straße begegnet waren – es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – und Mario beschlossen hatte, das Tier mit nach Hause zu nehmen. Sie waren glücklich übereingekommen, dass El Conde von nun an die Rolle des Herrchens übernehmen sollte. Er gab Basura zu fressen, wenn es möglich, und badete ihn, wenn es unumgänglich war. Der Hund brachte dafür Anhänglichkeit und Dankbarkeit in die Beziehung ein, aber er verzichtete nie auf seinen Freiheitsdrang, der jedem Straßenköter in den Genen liegt.
»Bist ein braver Hund, ja. Etwas unverschämt, kümmerst dich einen Dreck, haust ständig ab, aber ansonsten bist du ’n guter Kerl … Los, komm, wollen mal sehen, was ich für dich hab.«
Im Kühlschrank fand er ein wenig Reis, Reste von einem Kichererbseneintopf und eine fast leere Dose Makrelenfilets. Mario kippte alles zusammen in den Hundenapf, rührte um und stellte das Festmenü auf die Terrasse, erneut begleitet von dem ungeduldigen Hundegebell seines Freundes.
»Mensch, Alter, warte doch mal … Los, jetzt … und guten Appetit!«
Zufrieden schaute El Conde dem Hund beim Fressen zu. Basura schlang alles hinunter, auch das letzte Reiskörnchen. Danach wurde er ruhiger und trank Wasser, woraufhin er sich auf die Seite fallen ließ und übergangslos einschlief.
»Was für ein Typ … Der ist ja völlig geschafft! Also dann, bis morgen«, sagte Mario und schloss die Terrassentür.
Ordentlich gekleidet und parfümiert, so als ginge er auf Brautschau, trat El Conde hinaus in den Dunst der Straße und nahm Kurs auf das Haus seines Freundes Carlos. Er hatte das Bedürfnis, über seinen abgebrochenen Traum und seine Grübeleien zu sprechen und sich außerdem den Bauch voll zu schlagen. Und er kannte kein geneigteres Ohr als das des Dünnen und keine magischeren Kochkünste als die von Josefina, Carlos’ Mutter.
Trotz der Hitze wimmelte es von Menschen. Alle schienen von einer Unruhe gepackt, die sich in Geschrei, hektischen Bewegungen und gehetzten Blicken äußerte. Der Alltag trieb sie an, schickte sie in eine Schlacht, die unter freiem Himmel geschlagen wurde, an tausend Fronten. Die einen verkauften die unvorstellbarsten Dinge, die anderen kauften oder träumten davon, zu kaufen. Die einen strampelten sich auf dem Fahrrad ab und vergossen ihren letzten Schweiß, die anderen lächelten entspannt hinter ihrem kühlen Dollar-Dosenbier; die einen schlichen sich aus der Kirche des Viertels, die anderen aus einer illegalen Spielhölle … Zwei junge Mädchen, spärlich schwarz gekleidet, warteten darauf, von einem Auto ins Stadtzentrum mitgenommen zu werden, um ihre Dollar-Nachtschicht zu beginnen. Ein einbeiniger Bettler bat die Vorübergehenden um ein Almosen. Zwei junge Männer führten ihren Kampfhund spazieren und träumten vom Geld, das ihnen die scharfen Hundezähne einbringen würden. Ein bulliger Schwarzer mit mehreren Goldkettchen um den Hals, an denen goldene Kreuze und Madonnen in harmonischer Eintracht neben geisterbeschwörenden Amuletten an Halsketten aus schlichterem Material baumelten, trat wütend gegen den geplatzten Reifen eines ausrangierten Oldtimers Baujahr 54, wobei er irgendjemanden verfluchte und dessen Mutter eine Scheißhure nannte … In diesem Schwindel erregenden Durcheinander versuchte sich El Conde zurechtzufinden, was ihm jedoch nicht gelang. Zum ersten Mal in seinen mehr als vierzig Lebensjahren kamen ihm die Straßen seines
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