Adiós Hemingway
Viertels fremd vor, feindlich, bedrohlich. Diese chaotische Realität, die viele Jahre geschlafen oder im Verborgenen vor sich hin geköchelt hatte, nun war sie zum Ausbruch gekommen wie ein Vulkan, dessen Rauchwolken alarmierende Notsignale aussandten. Man musste weder Polizist noch Privatdetektiv sein, nicht einmal Schriftsteller, um zu begreifen, dass es niemand auf diesen Straßen interessierte, ob Hemingway einen Mann, der darauf aus gewesen war, ihm das Leben zu versauen, umgebracht hatte oder nicht. Das Leben und der Tod spielten sich woanders ab, viel zu weit weg von der Literatur und dem unwirklichen Frieden der Finca Vigía.
Black Dog und die beiden anderen Hunde liefen aufgeregt hin und her und hechelten zu der Finca.
»Irgendetwas haben die Tiere«, sagte er.
»Wollen sich einfach nicht beruhigen«, bestätigte Calixto.
Sie hatten sich auf einen umgestürzten Baumstamm neben die Einfahrt gesetzt. Von dort aus konnte man auf die Straße blicken, die zum Dorf führte, auf die morsch gewordenen Holzhäuser mit den von Sonne und Regen geschwärzten Dächern. Weit weg, hinter Victors Bodega, sah man die Autos über die Carretera Central rasen. Als Calixto seinen Chef kommen hörte, hatte er das Radio ausgeschaltet. Er wusste, wie sehr Hemingway die Musik verabscheute, die er selbst so sehr liebte.
»Ist dir nichts Verdächtiges aufgefallen?«
»Nein, überhaupt nichts. Hab eben noch da drüben nachgesehen … Und du, Ernesto, hast du was bemerkt?«
»Nein, aber ich hab das hier neben dem Swimmingpool gefunden.«
Er holte die Blechmarke des FBI aus der Tasche seiner Bermudas.
»Was ist das denn?«
»Eine amerikanische Polizeimarke. Keine Ahnung, wie zum Teufel die hierher gekommen ist.«
Calixto rutschte unruhig hin und her. »Von der nordamerikanischen Polizei?«
»Du hast doch nichts angestellt, Calixto?«
»Nein, natürlich nicht. Seit ich raus bin aus ’m Knast, bin ich friedlicher als ’n Säugling. Wos im Moment doch so viele Probleme gibt … Nein.«
»Wie kommt dann das Scheißding neben den Swimmingpool?«
»Ich bin seit zehn nach neun hier und hab nichts gesehen.«
»Ich glaub, die bespitzeln mich. Kann gar nicht anders sein …«
»Und deswegen hast du die da mitgebracht?« Calixto zeigte auf die Thompson, die der andere mit dem Kolben nach unten zwischen den Beinen hielt.
»Nein. Ich weiß auch nicht, warum ich die mit mir rumschleppe. Wollte sie eigentlich in den Turm bringen.«
»Das muss was mit den Revolutionären zu tun haben, glaub ich … Du wirst von niemandem bespitzelt, Ernesto. Weshalb sollten die dich bespitzeln?«
»Einmal haben sie schon das Haus durchsucht, erinnerst du dich?«
»Aber das waren die von hier, wegen deiner Waffen. Die da, das sind doch ganz andere.« Er wies auf die Marke. »Was wollen die bloß hier?«
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete er.
Es kam immer häufiger vor, dass er etwas nicht wusste oder entdeckte, dass er etwas nie gewusst hatte. Und dass er Dinge vergaß, die er früher gewusst hatte. Ferrer Machuca, sein Arzt, hatte ihm Vitamine verschrieben und ihm geraten, sich mit dem Trinken zurückzuhalten. Und er hatte ihm schmunzelnd gestanden: »Das passiert mir auch manchmal. Ich vergesse alles Mögliche … Wir werden langsam alt und klapprig.«
»Aber es gibt Dinge, die vergesse ich nicht«, sagte er.
Calixto sah ihn von der Seite an und lächelte. Er war an die Selbstgespräche seines Chefs gewöhnt. »Was für Dinge?«
»Dinge eben.«
Zum Beispiel vergaß er nicht den Tag, an dem er, zusammen mit seinem Freund Joe Russell, zum ersten Mal im ›Floridita‹ gewesen war. Sie waren zum Fischen rausgefahren, mit kläglichem Ergebnis, und wollten ihren Misserfolg in Alkohol ertränken. Joe nahm ihn mit ins ›Floridita‹, und dort trafen sie Calixto, den Alkoholschmuggler, den er von seinen häufigen Fahrten zum Cayo Hueso her kannte. Er war Joe unendlich dankbar dafür, dass er ihn hierher mitgenommen hatte. Denn zwischen ihm und der Bar war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte sie auf der Stelle allen anderen Lokalen Havannas vorgezogen. Damals war das ›Floridita‹ zur Straße hin offen, mit mächtigen Deckenventilatoren und einer herrlichen dunklen Holztheke, auf die man sein Glas stellen und die Ellenbogen stützen konnte. Man trank guten Rum zu zivilen Preisen und aß exzellente, fangfrische Garnelen, die nach Meer schmeckten. Darüber hinaus konnte man hier erfahren, was so alles in der Stadt passierte.
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