Adiós Hemingway
nichts Heldenhaftes an sich, vielmehr zeugte er von einer Zerrüttung, die unweigerlich dazu fuhren musste, das einzige Kapital des alten Mannes zu vernichten: seine Intelligenz.
Peinlich berührt malte sich Mario dieses Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit aus. So macht das keinen Spaß, dachte er. Es kam ihm vor, als boxe er gegen einen Sandsack. So ein lebloser schlaffer Sack konnte so manche Schläge einstecken, doch war er unfähig zum Gegenangriff. Er hätte es lieber mit dem großen und ausfallenden, obszönen und betrunkenen, selbstgefälligen und großkotzigen Amerikaner zu tun gehabt, der sich selbst mit heldenhaften Geschichten hochstilisierte, während er gleichzeitig Geschichten über Verlierer schrieb und Tausende von Dollars damit verdiente, um sich eine Jacht, eine Finca bei Havanna, Safaris in Afrika und Ferien in Paris und Venedig leisten zu können. Mario wollte sich mit dem donnernden Gott messen und nicht mit dem entkräfteten, gedächtnisschwachen Greis, der auf alles verzichten musste, was er im Leben am meisten geliebt hatte, einschließlich Alkohol und Literatur. Gegen so einen kämpft man nicht, schloss El Conde, der auf Grund seiner eigenen Anlagen und Überzeugungen gar nicht anders konnte, als sich mit Schriftstellern, Verrückten und Trinkern zu solidarisieren.
Das Schlimmste war, dass Hemingway die nachlassenden Kräfte seines gequälten Verstandes am Ende darauf richtete, sich die Schuld für seine Fehlschläge und Beschränkungen selbst anzulasten. In den letzten Gesprächen, die er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte führte, zweifelte er so sehr an den von ihm selbst geschaffenen Mythen seines Lebens, dass er seine Verleger bat, in den Klappentexten der Bücher die heroischen Taten und Abenteuer unerwähnt zu lassen. Auch das sexuelle Versagen der letzten Jahre quälte ihn, vor allem als er angesichts der frustrierenden Erfahrung mit Adriana Ivancich erkennen musste, dass die Zeit des Verzichts angebrochen war und es besser war, die jugendlich provozierende rothaarigen Valerie Damby-Smith an sich vorbeiziehen zu lassen, ohne zum Angriff überzugehen. Vor allem jedoch bedrückte ihn die Schuld, stets das Leben der Literatur, das Abenteuer der schöpferischen Klausur vorgezogen zu haben. Damit hatte er sein eigenes Ideal der totalen Hingabe an die Kunst verraten. Die Welt feierte ihr omnipräsentes Idol, diesen Mann der Muskeln und Narben, der sich nicht scheute, zwischen Fotomodellen der Vogue für eine Gin-Marke zu posieren, der sein Haus in Havanna zu einer Touristenattraktion und zum Landeplatz für Matrosen auf Landgang gemacht hatte. Er sonnte sich in einem falschen, eitlen Ruhm wie ein Star auf immer währender Safari. Aber war er nicht im Grunde ein Mann, der sich dem Ringen mit dem hartnäckigsten, gegen jede Kugel immunen Feind verschrieben hatte – dem Wort? Zuletzt fehlte dem Champion der Mut, das Leben in jener Welt, die er sich selbst geschaffen hatte, zu ertragen. Letzten Endes war auch er ein Verlierer. Und da fing er an, von Selbstmord zu reden, ausgerechnet er, der es seinem Vater niemals verzieh, dass er sich für den Tod durch eigene Hand entschieden hatte … Der Gaumen! Der Gaumen ist der schwächste Punkt am Kopf. Ein Schuss in den Gaumen kann nicht fehlschlagen. Mit der 256er-Mannlicher im Mund fing er an, seinen eigenen Tod zu inszenieren, ihn öffentlich zu machen, noch bevor er eingetreten war.
In seiner Zeit als Ermittler der Kripozentrale hatte sich El Conde gerne in Fälle wie diesen verbissen, war in sie eingetaucht, bis er keine Luft mehr bekam und fast das Bewusstsein verlor. Fälle, die er sich überstreifte wie eine zweite Haut. Alles in allem war er ein guter Polizist gewesen, trotz seiner Abneigung gegen Waffen, Gewalt und Unterdrückung und gegen die Macht, die durch Angst und die schaurigen Mechanismen des Apparats jeden manipulieren und erledigen kann. Nun aber, das wusste er, war er ein beschissener Privatdetektiv in einem Land, in dem es weder Detektive noch ein Privatleben gab, mit anderen Worten: Er war eine schiefe Metapher in einer schiefen Wirklichkeit. Er war, das musste er zugeben, ein armer Kerl wie unzählige andere, er lebte sein armseliges, illusionsloses, nichtiges, gänzlich unpoetisches Leben wie alle anderen Durchschnittstypen in dieser Stadt. Deswegen bedrückte ihn auch nicht die Gefahr, niemals zur Wahrheit vorzudringen. War es nach so langer Zeit überhaupt noch möglich herauszufinden, ob Hemingway der Mörder war
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