Adler und Engel (German Edition)
verbraucht dreifache Energie. Ich blicke in meine Tüte und schaue, was es ist.
Ein Eis, sage ich.
Es klingt nicht nur albern, es klingt verzweifelt. Vielleicht bin ich am Ende, jetzt wirklich am Ende. Ich fasse den Beutel unten, trete zwei Schritte vor und schüttele das Eis neben sie auf den Computertisch. Sie bewegt sich immer noch nicht, aber sie unterbricht den Schreibvorgang, der Wurm friert ein in der Mitte des Monitors, Claras Hände verharren angespannt wie auf Beute lauernde Spinnen über den Tasten.
Das Einzige, was ich von dir will, sagt sie leise, ist deine Geschichte. Was anderes interessiert mich nicht.
Ein paar Sekunden halten wir beide absolut still. Nur die Insekten krabbeln ungestört weiter. Wenn sie sich bewegte, sich umdrehte, mir ihr Gesicht zeigte; wenn ihre Stimme auch nur ein Quentchen Leben oder Wärme enthielte, würde es mir möglicherweise gelingen, die Lage zu meistern. Ich könnte loslachen oder brüllen, ich könnte sie büßen lassen für die Insekten, das grüne Auto, für Straßenverkehr und Kindergeschrei und das schlechte Licht im Fahrstuhl. Es bräuchte nur einen winzig kleinen Anstoß. Aber sie hält still, absolut still, sie dreht sich nicht um, sie atmet nicht einmal.
Mit einem gurgelnden Geräusch im Hals greife ich plötzlich nach dem Eis – es fühlt sich weich an zwischen den Fingern, eine Beule von Sauce in einem Stanniolpapier, und es gehört Jessie – und springe aus dem Raum. Den Hund reiße ich am Halsband mit, erst widerstrebt er, anscheinend will er bleiben, seine Pfoten rutschen ein paar Zentimeter über den glatten Boden, dann trabt er los, klickend neben mir, und wir verirren uns im dunklen Korridor, finden das kleine rötliche Licht der Fahrstuhltaste nicht, entdecken dafür über unseren Köpfen eine grüne Leuchte für das Treppenhaus. Ich glaube, Clara hat Jacques Chirac überhaupt nicht bemerkt.
Draußen im Hof werfe ich das Eis auf den Boden und trete es mit dem Absatz in den Staub, ein matschiges Gefühl, bis das Papier aufreißt und die weiße Sauce mir über den Schuh spritzt, bis hoch zum Socken, ich spüre es sickern und klebrig werden am Knöchel. Früher in Wien, wenn ich für einen Moment nicht weiterwusste, schloss ich von innen die Tür meines Büros ab, stellte mich ein paar Minuten lang in die Mitte des Raums und nahm die Haltung eines Standbilds an, einen Fuß vorgespreizt, in der leicht erhobenen Rechten eine aufgeschlagene Ausgabe des Sartorius II mit den wichtigsten Internationalen Gesetzen. Ohne den Blick zu senken, sah ich die Bronzetafel vor mir, unten an meinem Sockel, auf der stand: Max der Maximale. Ich kam mir unendlich lächerlich dabei vor. Aber es half.
Es gibt keinen Grund zu rennen, ich befürchte, Claras Blicke könnten mir durch das offene Fenster folgen. Aber ich kann nicht anders. Ich laufe los, erreiche die Straße, zwinge mich zum Schritttempo, halte es ein paar Meter durch, renne wieder. Auf einer beleuchteten Uhr in der Mitte einer Kreuzung ist es nach drei. Es wird halb vier sein, bis ich zu Hause bin, die ersten Vögel werden piepsen, wenn ich mich auf die Matratze geworfen habe, ich werde keinen Schlaf finden. Die Hitze wird zunehmen und der Straßenverkehr beginnen, ich werde mich wälzen und die Handflächen gegen den Kopf schlagen und es wird nicht mehr Mittwoch sein, sondern Donnerstag oder etwas Ähnliches, ein vergangener Dienstag oder kommender Freitag oder irgendein anderer beliebiger Tag in meinem Leben.
Obwohl draußen bereits ein Streifen dunstiger Helligkeit über dem Dächerhorizont der Stadt liegt, ist es in meinem Flur absolut dunkel. Umso auffälliger, dass das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinkt.
Donnerstag, null Uhr zweiunddreißig, sagt der AB.
Wie pedantisch diese Geräte sind. Um null Uhr dreißig war es für mich noch Mittwoch. Es folgt eine Männerstimme, die ich nicht kenne. Aber der Akzent ist eindeutig. Wienerisch.
Als er fertig gesprochen hat, piepst der AB, und ich reiße sein Kabel aus der Wand. Ich laufe ins Wohnzimmer, ohne Licht zu machen, hebe ein paar Kleidungsstücke auf und stopfe sie in eine herumliegende Plastiktüte. Dann schubse ich Jacques Chirac vor mir her aus der Wohnung. Schließe zweimal ab und renne die Treppe hinunter. Vorbei.
5 Ferkel
A n heißen Tagen heiß zu duschen ist Masochismus. Ich kriege Schweißausbrüche unter dem strömenden Wasser, an meinen Oberschenkeln erscheinen rote Kringel auf der Haut. Mir ist schwindelig. Der Dampf steht dick
Weitere Kostenlose Bücher