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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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sind immer noch offen. Der Regen hat nachgelassen, draußen tröpfelt es nur noch. Im Wohnzimmer sind die Kleidungsstücke in Fensternähe zu nassen Haufen zusammengesunken, durchweichtes Papier liegt wellig und mit zerlaufener Druckerschwärze dazwischen. Der Teppich hat das Wasser bis in die Zimmermitte hineingesaugt, der Fleck hat die Form Südamerikas.
    Im Bad reiße ich alle Handtücher von den Haken und werfe sie auf den Küchenboden. Die unteren Enden meiner Hosenbeine saugen sich voll und ziehen mir die Hose auf die Hüften. Es liegt keine Nachricht auf dem Tisch. Die Uhr zeigt zehn, es ist weder Mittwoch noch Sonntag. Ich finde Claras Adressbuch und überlege, ob ich nach Telephonnummern von Freunden suchen soll. Aussichtslos. Es sind Hunderte von Namen in diesem Buch.
    Ich setze mich an den Küchentisch, bedecke die Augen mit den Händen und versuche, so intensiv wie möglich an die zerschlitzte Matratze, Jessies Schlafanzug und den Wecker zu denken. Eine von Rufus’ Regeln lautete: Konzentriere dich auf das Unerträgliche, wenn du nicht heimgesucht werden willst bis in alle Ewigkeit.
    Ich hatte die Matratze, den Schlafanzug und den Wecker zusammen mit einer Packung Schlaftabletten für uns beide gleich nach unserer Ankunft im Einkaufszentrum am Leipziger Hauptbahnhof gekauft. Mit dieser Ausrüstung hielten wir in der leeren Wohnung Einzug. Die Adresse stand auf einem Zettel, den ich am Tag zuvor beim Ausräumen meines Büros in Wien auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Zwei Schlüssel waren mit Tesafilm auf das Papier geklebt.
    Trotz des Weckers verschlief ich am Morgen, und das war die Schuld der Handwerker, die um sieben Uhr damit begannen, den Putz von der Hausfassade zu klopfen. In der ganzen Straße gab es kein Gebäude ohne Baugerüst. Der neue Braun Voice Control piepste zwei Mal, wartete nicht auf meinen Zuruf, sondern verstummte beim nächsten Hammerschlag und kauerte danach verschreckt auf dem Boden, ohne einen weiteren Ton herauszubringen. Ich schlief weiter und erwachte erst, als Jessie, im sonnengelben Schlafanzug, mich an der Schulter rüttelte.
    Musst du nicht aufstehen?
    Zehn Minuten später verließ ich das Haus. Jessie rannte mir nach auf die Straße, wünschte mir Glück und versprach, fürs Abendessen einzukaufen, bevor ich nach Hause käme. Eigentlich brauchte ich kein Glück, und sie würde es niemals schaffen, etwas Verwertbares zum Abendessen zu besorgen, aber ich war gerührt. Sie drückte mir etwas in die Hand, es war das gelbe Windrad, das ich am Tag zuvor aus dem Blumenkasten eines Restaurants für sie hatte klauen müssen, weil sie fand, dass es ihr ähnlich sehe. Gelb war ihre Lieblingsfarbe. Cooper, hatte sie einmal erklärt, Gelb ist die Farbe, die für einen Moment die Zeit anhält. Bei Gelb weiß man nichts. Nicht einmal, ob man stehen bleiben darf oder weiterfahren soll. Leider ist es auch die Farbe, die meinen Kopf am meisten schmerzt.
    Sie ertrug die Farbe nur, wenn sonst alles in Ordnung war, und so wie sie jetzt dastand, mit gelbem Schlafanzug und Windrad um die Wette leuchtend, nahm ich alles zusammen für ein gutes Zeichen. Ich küsste sie und sagte »Bis heute Abend«, ganz selbstverständlich, als wäre diese Abschiedsszene auf dem Bürgersteig vor der Haustür Teil unserer täglichen Routine.
    Kurz darauf stand ich mit fast einer Stunde Verspätung unter der cremefarbenen Gründerzeitfassade am Mozartplatz, las Rufus’ Nachnamen auf dem Messingschild, und mein Anzug ließ nirgends genug Platz, um das Windrad zu verstecken. Ich trug es vor mir her wie eine Blume für die Dame des Hauses bei einer Cocktailparty.
    Die Tür im zweiten Stock war angelehnt, ich trat einfach ein. Die Kanzlei war klein, ich zählte nur zehn Zimmer. Es roch intensiv nach neuen Teppichböden und nach Kaffee. Maria Huygstetten trat aus dem Empfangszimmer, stellte sich vor und hielt das Windrad für mich, während ich den Mantel ablegte. Ich sah sie an, und sie schaute mir einen Moment zu lange in die Augen, bevor sie sich umwandte. Ihr Parfum roch nach Pfeffer und Lavendel.
    Sie klopfte für mich an eine Tür. Die Frau hinter dem Schreibtisch hatte so kurze Haare, dass es sich auch um eine Verfärbung der Kopfhaut hätte handeln können, und so kurze Beine, dass sie von der Stuhlkante aus kaum den Boden mit den Füßen zu erreichen schien. Sie diktierte im Sitzen, eines dieser alten Kassettengeräte dicht vor den Mund gepresst. In Wien hatten wir winzige Apparate mit digitaler

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