Adler und Engel (German Edition)
Stellen, wo das Kopfsteinpflaster in modernen Straßenbelag überging, gab der Boden unter den Füßen nach, der Asphalt schmolz. Jessie ging dicht an den Hauswänden, um nur auf schattige Flächen zu treten. Manchmal legte sie mir von hinten die Arme um die Schultern, hängte sich an meinen Rücken und ließ sich ein paar Schritte tragen, weil der Boden zu heiß wurde für ihre bloßen Füße.
Wir nahmen den Weg Richtung Hofburg, um uns am Michaelerplatz in einen der Brunnen werfen zu können, bevor wir weitergingen. Die kleinen Touristengrüppchen am Graben wirkten verirrt wie nach einer Notlandung. Jessie trieb uns an, führte uns über den Heldenplatz und ein Stück am Ring entlang und quatschte etwas von einem schönen Spaziergang. Ab und zu stützten Shershah und ich uns gegenseitig, dann stießen wir einander weg, wenn die schweißerzeugende Berührung der Häute unerträglich wurde. Plötzlich bedeutete Jessie uns zu warten und verschwand in einem Gebäude am Opernring. Wir sahen sie durch das Schaufenster einer Galerie, umgeben von sehr bunten Bildern, wie sie zu einem dicken Mann sprach, der zuhörte, nickte und dabei durch die Scheibe zu uns nach draußen sah. Er musterte mich eindringlich, als wäre er bemüht, sich meine Gesichtszüge einzuprägen. Dann kam Jessie zurück und wir durften nach Hause.
Gleich beim Betreten der Wohnung merkten wir, dass sich etwas verändert hatte. Im Eingangsbereich hing der Geruch eines teuren Herrenparfums in der Luft.
Na so was, rief Jessie, ich glaube, mein Vater und mein Bruder sind gekommen.
Sie hatte recht.
10 Das Gelb
C lara bringt Hundefutter mit vom Einkaufen, sie keucht und wirft den schweren Sack in der Küche hinter die Tür. Als sie ins Wohnzimmer kommt, stelle ich mich schlafend. Sie zieht die Jalousie hoch, öffnet das Fenster und verlässt den Raum.
Die letzten Sonnenstrahlen des Tages beleuchten meinen überquellenden Aschenbecher, meine bleiche, aufgedunsene Haut mit den verklebten Härchen überall auf Armen und Beinen, meine leergetrunkenen Flaschen und abgekoksten Glasflächen, meine zerknitterten Zeitungen und die aus der Couch gewälzten Kissen.
Als das Telephon klingelt, kommt Clara ins Zimmer zurück, sie antwortet einsilbig in den Hörer und starrt mich dabei unentwegt an. Ich wickele mir die Decke um den Bauch und verschwinde im Bad. Beim Duschen lasse ich die Tür der Kabine offen, um besser Luft zu kriegen, und als ich fertig bin, sind die Kacheln bedeckt von einem flachen See, in dem Claras und meine ausgefallenen Haare schwimmen. Ich überlege, was ich anziehen soll. Vor allem muss ich Unterwäsche holen aus meiner Wohnung, dringend.
Eine Weile suche ich im Wohnzimmer nach einem Gegenstand, den ich noch nicht unzählige Male befühlt, gedreht und gewendet habe, irgendetwas, auf das ich meinen rotierenden Gedankenorbit für ein paar Momente konzentrieren kann. Vergeblich. Clara kommt mit einer Tasse Kaffee aus der Küche und setzt sich an den Schreibtisch. Mit dem Rücken ans Regal gelehnt, schaue ich sie an. Seit ein paar Tagen trägt sie ihr Haar offen, es sieht strähnig aus. Ihre Kleidungsstücke muss sie sich vom Boden nehmen, das Hemd knöpft sie unten nicht zu, und die Beine darunter sind weiß und gerade, keine Spur von Muskeln oder Knochen, als wären sie aus Wachs gezogen mit zwei langen Dochten darin. Vorne vor den Zehen bilden die Socken leere Säckchen und verlängern ihre Füße optisch auf ein groteskes Ausmaß. Natürlich hat sie Ringe unter den Augen. Sie schläft nachts schlecht, und wenn sie mal gut schläft, mache ich Lärm, bis sie aufwacht. Ich kann es nicht ertragen, wenn in der Wohnung jemand friedlich schlummert, während ich zu unruhig bin, um mich auch nur hinzulegen.
Die Uhr auf Claras Monitor zeigt acht, dabei ist es bereits seltsam dunkel draußen. In einer kleinen Schachtel liegen die Kassetten, ordentlich beschriftet von meiner Hand. Daneben ein Stapel Bücher mit den gelben Etiketten der Universitätsbibliothek. Ich höre das Knistern und Schaben meiner eigenen Stimme, es dringt durch die Kopfhörer nach außen. Clara tippt mit professioneller Fingerfolge, ihre Miene ist ausdruckslos. Es ist ekelhaft, ihr zuzusehen. Sie wirkt beschäftigt und fleißig, als gäbe es auch nur den geringsten Sinn in dem, was sie da tut.
Ich trinke meinen Kaffee aus, trete hinter sie und sehe ihr über die Schulter. Dass ich sie anstarre, scheint sie nicht zu stören. Sie ignoriert mich, als wäre diese Wohnung eine
Weitere Kostenlose Bücher