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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Schweiß auf der Stirn an den Kanten ihrer Tische festhalten und beim Sprechen den Oberkörper vor und zurück schwenken, als wollten sie sich verbeugen vor den Papieren, die vor ihnen liegen.
    In reaction to a steady deterioration in the security situation, ruft Clara, gehen wir jetzt in die Stadt. Was sind IDPs?
    Internally Displaced People, sage ich. Darüber macht man keine Witze.
    Geil, sagt sie, ich werde mich durch die gesamten Unterlagen arbeiten.
    Lass die Finger davon, sage ich.
    Auch wenn sie sich den Inhalt der Dokumente mühelos aus dem Internet herunterladen könnte, widerstrebt mir der Gedanke daran, wie sie durch diese schneeweißen, unzerknickten Papiere blättert. Es ist ein albernes Gefühl, ich verteidige die heiligen Kühe einer Religion, der ich nicht mehr angehöre.
    Der Hund steht an der zweiflügeligen Metalltür, er und sein überdimensionaler Schatten wedeln gemeinsam mit dem Schwanz. Die Kastanie spreizt ihre Finger und lässt die leicht bewegte Nachtluft hindurchrinnen, ich stehe auf, es ist gar nicht schwer, mein Kopf ist kühl und die Füße sind sehr weit davon entfernt.
    Auch gut, sagt sie, gehen wir zum Sightseeing.

17 Walzertakt
    W enn ich das Kinn ein bisschen anhebe, verliere ich ihren Kopf aus dem Blickfeld, sehe ihre Schläfen nicht mehr mit dem hohen Haaransatz, der immer auftaucht, wenn sie sich die Haare zum Pferdeschwanz zurückbindet. Dafür sehe ich die Rundbögen der Stadtbahn, als würde die Straße die Augenbrauen hochziehen, während sie uns herannahen sieht. Ich hebe den Kopf noch ein bisschen höher und betrachte die oberen Hälften der langsam vorbeiziehenden Fassaden und die Dächer mit dem gesträubten Antennenwald darauf.
    Ich stelle mir vor, die Schritte neben mir gehörten zu Jessie. Es sind keine barfüßigen Schritte, obwohl Sommer ist und der Asphalt nachts die Hitze aufbewahrt für den nächsten Tag und die Straße zu etwas Lebendigem macht, über das Jessie nie anders als mit nackten Füßen laufen wollte. Sie trug nur Schuhe, wenn sie sich am Tag zuvor einen Glassplitter in die Fußsohle getreten hatte. Dann kauerte sie sich zu Hause auf den Boden, öffnete mit einer Rasierklinge die Hornhaut unter ihrem Fuß, führte eine Pinzette zwischen die Ränder der Schnittwunde ein und packte den Splitter am hinteren Ende. Am nächsten Tag wollte sie trotzdem wieder mit mir nachtwandern, hinkte ein bisschen und trug Schuhe dazu.
    Rhythmisch ertönt das singende Geräusch von Jeansstoff, der beim Gehen zwischen den Innenseiten von Oberschenkeln gerieben wird. So hat Jessie nie geklungen, und als ich die Hand hebe, um sie an der Schulter zu berühren, liegt die Schulter zu hoch und langes feines Haar kitzelt meine Haut. Ich gebe auf, ich schiebe die Hand in die Hosentasche. Clara lässt sich nicht auslöschen.
    Bevor wir den Ersten Bezirk erreichen, biege ich links ab. Wir gehen durch die Josefstadt ins Medizinerviertel, wo sich die Steine der Stadt zu gewaltigen Massen auftürmen, wo jedes Gebäude ein eigener, rechteckiger Felsplanet ist. Wir geraten in die Umlaufbahn des Alten Krankenhauses, doch bevor wir es ganz umkreisen können, lenkt das Josephinum die Schritte ab, und wir folgen der Schwerkraft in eine neue Bahn. Immer bin ich so durch die Stadt gezogen worden, mäandernd von einem Häuserblock zum nächsten, niemals geradlinig, niemals ganz Herr meiner eigenen Schritte. Notorisch vom Weg abgekommen, stets halb verirrt, mehr aus Zufall letztlich am rechten Ort auflaufend. Ich weiß nicht, ob Clara es spürt. Jessie spürte es. Bei unseren nächtlichen Wanderungen hielten wir uns aneinander fest, um nicht von verschiedenen Häuserblöcken in verschiedene Richtungen gezogen zu werden, auseinander treibend, uns verlierend.
    Ich fasse Jacques Chiracs Vorderbeine, stelle sie auf die Mauer und zeige ihm die Wasseroberfläche. Er beginnt gierig zu saufen, seine Zunge klatscht im Walzertakt ins Wasser, und das Geräusch wird zurückgeworfen von den Wänden und weckt in mir für einen Moment die Illusion, einer der Fiaker, die ich von meinem Bürofenster aus täglich hörte, hufklappere die Gasse herauf. Das Efeu bewächst spärlich die gewundene Treppe, dazwischen ragen die vierköpfigen, galgenförmigen Laternen auf. Wir alle, Clara, der Hund, das Efeu, ich und die Steinsäulen, haben vier Schatten, die uns sternenförmig umgeben.
    Neben dem bemoosten Wasserspeier mit den aufgeblasenen Backen, der immer noch wie ein Arschgesicht aussieht, hängt eine von Erosion

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