Adler und Engel (German Edition)
regnen.
Heimlich nehme ich ihr die Wodkaflasche aus dem Arm, und weil ich noch nie Lebensmittel wegwerfen konnte, stelle ich sie neben den Kopf eines Penners auf die nächste Parkbank.
Weil sie so schwankt, gehen wir Arm in Arm, einfach schweigend die engen Gassen entlang, und es klappt gut, als hätten wir das schon immer gemacht. Es ist wie Tanzen, eine Choreographie für Hände und Füße, aus Griffen und Schritten, während wir gemeinsam ausweichen: parkenden Autos, die die Gehsteige verengen, Hundescheiße, Baustellenabsperrungen, Schlaglöchern, Müll, Wurzeln und klaffenden Bodenplatten. Es gilt, sich nicht loszulassen, es gilt, nicht aus dem Tritt zu kommen, das Tempo zu halten, die Körper, wenn immer möglich, ineinander zu schmiegen. Mir kommt in den Sinn, dass Tanzen möglicherweise nicht mehr ist als die Lehre davon, wie man zu zweit um den Dreck herumkommt. Die Wissenschaft vom gemeinsamen Ausweichen.
Dann stehen wir in der Alser Straße, vor der Glasplatte, die in ihrem schmalen Eisenrahmen senkrecht aus dem Boden ragt. Hier liegt die Mitte des Universums, hier steckt meine private Erdachse fest. Jetzt fällt mir auch ein, wozu ich Clara wirklich brauche heute Nacht.
Ich postiere sie auf der anderen Seite der Scheibe. Sie lächelt, sie sieht glücklich aus, sie schaut mich durch die Glasplatte an, als wollten wir heiraten. Hinter ihrem Rücken befindet sich das Eckhaus, in dem der Dichter geboren wurde, oder, weil hier Wien ist, wahrscheinlich starb, und ich fand schon immer, dass sich im Erdgeschoss eines solchen Hauses ein kleines Ladencafé befinden müsste, und bin wieder überrascht, dass dort nichts dergleichen ist. Ich räuspere mich und fange an.
Es ist was es ist, lese ich.
Unsere Blicke kreuzen sich durch das Glas. Sie kapiert nicht. Die Schrift ist blassgrau und nur zu erkennen, wenn man genau hinsieht und den Körper des Gegenübers als dunklen Hintergrund verwendet. Ich ziehe an der Zigarette und wiederhole die erste Zeile.
Es ist, was es ist, sage ich langsam.
Ich blase Rauch gegen die Scheibe, er strömt gerade darauf zu, trifft auf das Glas und wird auseinander getrieben wie ein Atompilz. Clara guckt hin. Und dann hebt sie die Augenbrauen und lacht.
Tsi se saw, sagt sie, tsi se.
Ich spüre einen Stich im Bauch, vollkommen unklar, ob es Freude ist oder Schmerz oder nur weil ich seit anderthalb Tagen nichts gegessen habe. Ich sauge an der Zigarette, dass sich die Glut tief in den Filter hineinfrisst, ich reiße mich zusammen.
Es ist was es ist, sagt die Liebe, sage ich.
Ebeil eid tgas, tsi se saw tsi se, sagt Clara.
So lesen wir alle Strophen durch und gehen in die Hocke für die untersten Zeilen, wobei ich unauffällig das Gesicht meinen Knien zuneige und mir die Backen am Stoff der Hose abwische. Als wir es zum zweiten Mal lesen, muss ich abbrechen. Ich bleibe einfach in der Hocke kauern.
Es reicht, sage ich, es ist gut.
Clara verlässt ihre Seite der Scheibe und kommt neben mich.
Tug tsi se, sagt sie leise.
Obwohl das nirgendwo steht.
Dann knallt es in meiner Hüfte und ich springe auf. Es ist die Taste vom Recorder, die sich selbst herauskatapultiert hat am Ende des Bands. Ich habe nicht bemerkt, wie sie das Gerät eingeschaltet hat. Vielleicht unter der Brücke am Donaukanal. Ich fühle mich wie in den Rücken geschossen.
Wir sind wieder in einem der Bögen unter der Stadtbahn, ich ignoriere Clara schon seit einer Stunde, aber als sie schlappmacht und einknickt, fange ich sie trotzdem auf. Ich setze sie auf die Bank an der Wand des Durchgangs, und weil es so nach Urin stinkt, stehe ich abseits, schließe abwechselnd das linke und das rechte Auge und lasse auf diese Art Clara und die Bank vor mir hin und her springen. In der Richtung, aus der wir gekommen sind, ist der Himmel blassrosa wie ein ausgetrunkenes Erdbeermilchglas, ich empfinde das als unangemessen. Über dem Sechzehnten Bezirk, wo wir hinwollen, duckt sich der Rest der Nacht zusammen.
Danke, flüstert Clara plötzlich.
Wahrscheinlich deliriert sie. Bevor sie einschlafen kann, packe ich sie am Zopf und reiße ihr den Kopf in den Nacken. Sie merkt es kaum. Ich habe keine Lust, sie anzufassen, aber sie läuft nicht mehr allein, ich muss sie fast tragen zum Taxistand und ihr dann auch noch das Geld aus der rechten Hosentasche fummeln, wobei ich ihr Schambein unter dem rechten Daumen spüre. Ich lasse das Taxi zwei Häuserblocks vor unserer Hofeinfahrt halten und würde sie am liebsten auf der Rückbank
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