Adler und Engel (German Edition)
überquere ich den Hof und drehe den Wasserhahn auf, ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal außer Kaffee etwas Flüssiges zu mir genommen habe. Möglicherweise ist es schon zwei Tage her. Ich drehe den Kopf zur Seite und lasse mir das Wasser über das Gesicht und in den Mund laufen, es überspült auch meine Nase, ich muss husten.
Zum zweiten Mal heute treibe ich mir Dreck unter die Fingernägel, während ich die Erde aus der Versenkung scharre, in die der Griff eingelassen ist. Mit meinem ganzen Gewicht gelingt es mir, die Platte ein paar Zentimeter zurückzuziehen, und als Clara ins Gebüsch kriecht, die Finger um den Rand legt und mithilft, geht es leicht. Der Brunnen atmet aus, es wird kühl. Clara sucht sofort einen Kiesel und wirft ihn hinein.
Das kann nicht sein, sagt sie.
Siehste, sage ich.
Sie macht sich auf die Suche nach einem weiteren Stein, es dauert eine Weile, bis sie zurückkommt. Wahrscheinlich hat Jessie tatsächlich vor zwei Jahren alle im Hof vorhandenen Kiesel verbraucht. Clara legt den Finger auf die Lippen, wir beugen uns über den Rand, dann lässt sie den Stein los. Ein leises Rascheln ist zu hören, ein Wispern.
Jedenfalls ist da unten kein Wasser, sagt sie.
Und auch keine Erde, sage ich.
Eine Wolke schiebt sich über den Mond, es wird dunkel wie in einer Kuh. Das Gebüsch, in dem wir klemmen, stinkt nach Urin, wahrscheinlich pinkelt der Hund schon den ganzen Tag hinein.
Alles Weitere morgen, ruft Clara mir hinterher.
Während tagsüber die Sonne das Gittermuster der kleinen quadratischen Scheiben auf Schreibtisch und Holzboden im Schuppen gezeichnet hat, wird es jetzt von der Deckenlampe nach außen in den Hof geworfen, länglich verzerrt auf die kleine Mauer und den Stamm der Kastanie. Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich die Kästchen zähle, ich komme jedes Mal zu einem neuen Ergebnis. Ab und zu huscht Claras Schatten über das große Lichtrechteck des Türausschnitts. Als sie herauskommt, trägt sie ein kleines Silbertablett vor sich her, auch das muss aus einem Caféhaus gestohlen sein, und darauf angerichtet sind eine Linie Koks und ein gerollter Tausend-Schilling-Schein, gar nicht mal schlecht gemacht, offensichtlich lernt sie durchs Zusehen.
Das Leben, sage ich, ist wie ein Adventskalender, hinter dessen vierundzwanzigster Tür sich ein weiterer Adventskalender befindet.
Oh come on, sagt Clara.
Während ich sauge, bringt sie als Nächstes einen der Kartons heraus, sie trägt schwer daran. Die beiden Hälften des Deckels stehen offen, auf eine Seite ist mit dickem Filzstift eine Zahl gemalt, 1997. Die Eins ist nur ein gerader Balken wie ein »i« ohne Punkt, und an der Sieben fehlt der kleine Querstrich. Clara nimmt ein einzelnes Blatt heraus, dann noch ein mehrseitiges, geheftetes Dokument und streckt mir beides hin. Die Embleme in der Kopfzeile erkenne ich von weitem. Eins ist blau auf weißem Grund, es stellt eine lorbeerumkränzte Weltkarte dar, darüber ein Gittermuster, das aussieht wie das Raster eines Zielfernrohrs. Das andere ist weiß auf blauem Grund, die vereinfachte Darstellung einer Kompassrose.
Leg das zurück, sage ich.
Was ist das, fragt sie.
Das siehst du selbst auf einen Blick, sage ich, und alles darüber hinaus würdest du ohnehin nicht verstehen.
Sie lässt den Karton auf den Boden fallen, er platzt an einer Seite auf und die schneeweißen, glanzbeschichteten Dokumente rutschen wie ein kleiner Gletscher in den Hof.
Ist das so Kram, fragt sie, wie wo du mit gearbeitet hast?
In etwa, sage ich. Inter alia .
Und warum liegt das hier rum?
Das kann ich dir auch nicht sagen.
Doch, sagt sie, ich bin sicher, du kannst. Du musst es nur ganz, ganz doll versuchen.
Sie bringt mich wirklich so weit, dass ich alles versuchen würde, nur damit sie mit ihrem nervtötenden Gelaber aufhört. Wahrscheinlich ist das die Strategie.
Das war vermutlich Informationsmaterial für Leute, die hier gelebt haben, sage ich unbestimmt.
Hier kann man doch gar nicht leben.
Du selbst beweist gerade das Gegenteil.
Ich lebe nicht, sagt sie, ich betreibe Feldforschung.
Gott sei Dank ist sie vom Thema abgekommen. Möglichst unauffällig schiebe ich die Dokumente in den Karton zurück. Sie gehören nicht hierher, sie sind Entführte, Geiseln aus einer anderen Welt, in der sie sich auf polierten Konferenztischen ausbreiten, neben gekühlten Wasserkaraffen und einem kleinen Funkgerät, das Kontakt hält zu den Glaskabinen, in denen sich Dolmetscher mit
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