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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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längliches Loch, ich treibe mir Erde unter die Fingernägel. Clara sitzt neben mir auf der niedrigen Mauer, unsere Knie stoßen fast gegen den Kotflügel des Asconas. Ich sehe auf und in mein eigenes Gesicht, das sich hinter der Motorhaube in den großen Scheiben spiegelt, von denen die halbe Wand des zweiten Schuppens ersetzt wird.
    Da arbeiten Künstler, sage ich, das ist eine Art Atelier.
    Das Atelier misst nicht mehr als zehn Meter in der Länge und bildet die gesamte zweite Hofseite. In meiner Erinnerung war alles viel größer, es kommt mir vor, als wäre ich zurückgekehrt, um nur eine Puppenstubenversion des eigentlichen Ortes vorzufinden. Meine Finger stoßen auf eine angefaulte Tulpenzwiebel, ich kratze sie aus der Erde und werfe sie beiseite.
    Was für Künstler, fragt Clara.
    Als Jessie mich herbrachte, sage ich, habe ich das auch gefragt. Sie sagte: Die Künstler vom Galeristen.
    Was für ein Galerist, fragt Clara.
    Das, sage ich, wirst du schon noch herausfinden.
    Sie steht auf, umrundet den Ascona und schirmt das Glas des Atelierfensters mit beiden Händen ab. Ich hole aus, schleudere die tote Maus im Taschentuch in das Gebüsch hinter der Kastanie und reibe mir die Hand an den Boxershorts ab, während ich mit der anderen das Loch wieder zuschaufele.
    Auf dem Elektrokocher steht der taillierte italienische Kaffeekocher und faucht wie ein Drache. Jacques Chirac hat sich endlich von der Türschwelle erhoben und beschnuppert den Stamm der Kastanie. Auf dem Grasstück kann er sich gerade umdrehen, die Mauer kostet ihn kaum einen erweiterten Schritt. Im rechteckigen Ausschnitt zwischen den Hauswänden steht Herkules mit weit gespreizten Beinen am Himmel.
    Max, ruft Clara, willst du Kaffee.
    Ich mag es nicht, wenn sie meinen Namen gebraucht, und ich mag es noch weniger, wenn sie mich in ihre Wohngemeinschaftsträume einbezieht. Aber der Kaffee riecht stark und gut, also folge ich dem Ruf, trete neben sie und sehe zu, wie sie die ölige schwarze Flüssigkeit in kleine Gläser gießt. Ich erkenne die Gläser, die sind im Café Hawelka geklaut, wo man in ihnen das Wasser zum Großen Braunen serviert.
    Falls du Zucker willst, sagt sie, musst du vorher den Mäusekot aus der Packung picken.
    Schon gut, sage ich.
    Bist du fit, fragt sie.
    Soll das ein Witz sein, frage ich.
    Wir treten gemeinsam in den Hof. Die Dunkelheit ist wie Wundsalbe auf einer Ganzkörperverbrennung, lindernd legt sie sich um mich.
    Ich will noch in die Stadt, sagt sie.
    Wozu, frage ich.
    Wozu sind wir denn hier?
    Das fragst DU mich?
    Wir stehen dicht beieinander und sehen uns an. Ihre Augen, eins wie Wasser und eins wie Himmel, sind ausdruckslos wie buntes Glas.
    Pass auf, Desperado, sagt sie, du kokst dich jetzt voll bis obenhin und dann machen wir eine Nachtwanderung. Zur Belohnung zeige ich dir schon mal was.
    Sie zieht mich an der Kastanie vorbei und teilt die Zweige des Gebüschs in der Hofecke mit beiden Händen. Ich glaube, es sind wilde Rosen, aber ohne Blüten, und abgedichtet von den hellgrünen Blättern irgendeiner parasitären Schlingpflanze zu einer fast undurchdringlichen Wand. Ich sehe die weggeworfene Maus im Taschentuch auf Kniehöhe darin hängen. Clara scheint sie nicht zu bemerken. Sie gräbt sich tiefer in den Busch und lehnt sich beiseite, um mich hineinsehen zu lassen. Im Dunkeln erkenne ich ein paar alte Steine, an manchen Stellen mit Zement aufgefüllt, und darauf eine schwere, geriffelte Metallplatte.
    Das ist ein Brunnen, sagt Clara.
    Ich kneife die Augen zusammen, sie hat recht.
    Den kenne ich schon, behaupte ich.
    Ich hatte nur nicht an seine Existenz geglaubt. Vom Brunnen erzählte Jessie mir ganz am Anfang, als ich noch dachte, bei ihren Geschichten handele es sich um Phantasieprodukte: Wiesen und Felder, die wie Sprungtücher straff gehalten werden mussten, und Reisen in Gebiete, wo es Sammelstellen für unbenutzte Großmütter gab. Nach und nach aber erkannte ich Details aus ihrem Geplapper in der Außenwelt wieder, und mir wurde klar, dass Jessie alles, was sie sah und erlebte, ein Stück weit verwandelte, um es einzufügen in ihre eigene, märchenhafte Welt. Sie dachte sich nie etwas aus. Vielleicht bin ich hier, um noch die letzten Bestandteile aufzuspüren, aus denen sie ihre inneren Landschaften zusammensetzte, vielleicht werde ich mich dann komplett fühlen. Endlich bereit zu gehen.
    Es hat geregnet, sagte Jessie am Telephon, und die Nacktschnecken liegen hier überall im Hof verteilt, wie

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