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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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zernagte Marmorplatte. Clara starrt mit zusammengekniffenen Augen darauf, während sie die Hände im Wasserstrahl befeuchtet, sich über die Schläfen streicht und unter dem Haar ihren Nacken kühlt.
    Was steht da, fragt sie.
    Wenn die Blätter auf den Stufen liegen, sage ich, herbstlich atmet aus den alten Stiegen, was vor Zeiten über sie gegangen.
    Ich lasse den Mittelteil weg und springe zum Schlussvers, ich spreche lächelnd:
    Viel ist hingesunken uns zur Trauer, und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.
    Guckst du gar nicht hin, fragt sie, während du liest?
    Über unseren Köpfen erzeugen die Mücken ein prasselndes Geräusch, während sie Kampfangriffe fliegen auf die Milchglaskugeln, die bärtig sind an den Stellen, wo tote Insektenkörper sie von innen auffüllen – die Leichen all jener, die erreicht haben, was sie unbedingt wollten. Vom Geländer aus sehen wir unten am Fuß der Stiege den Hund, wie er seinen Körper zur Form eines Fragezeichens zusammenkrümmt, den Schwanz steif abspreizt und auf die Erde neben die kleine Marmormauer scheißt.
    Da unten, sage ich, haben wir gesessen, als sie mir eines Nachts ein Siegel in die Hand drückte. Ich sah ihr an, dass sie sich eine ganze Reihe Argumente zurechtgelegt hatte. Ich öffnete es, eine kleine Schneewehe lag darin, und wenn ich nah ran ging, sah ich die mikroskopischen Lichtbrechungen als winzige bunte Punkte in den Kristallen tanzen.
    Das geht doch gar nicht, sagt Clara, Einbildung.
    Mag sein, sage ich, aber es war jedenfalls äußerst sauber.
    Warst du vorher clean, fragt sie.
    Es ist wie mit der ersten Liebe, sage ich, sie kann noch so lange vorbei sein und wird trotzdem weiterbrummen als ein Grundton in deiner Lebensmelodie.
    Das ist doch Unsinn, sagt Clara.
    Ich hatte seit Beginn des Studiums nichts genommen, sage ich, und das war gar nicht mal so einfach. Als ich dann Jessies Siegel in der Hand hielt, stellte ich mir vor, wie einer in jahrelanger Arbeit ein Hochhaus aus Streichhölzern gebaut hat, und als es fertig ist, dreht er das letzte Hölzchen zwischen den Fingern und sein Herz klopft und sein Mund wässert. Er reißt das Streichholz an und hält es unten hin, es gibt eine herrliche, stufenweise Explosion, Schwefelkopf für Schwefelkopf verzischt, und die Flammen rennen an den Seiten hinauf. Dieses Feuer stellte ich mir vor als das schönste Licht, das man auf Erden sehen kann. Mein Herz klopfte und mein Mund wässerte. Jessie brauchte kein einziges ihrer Argumente auszupacken.
    Man muss schon sehr doof sein, sagt Clara, nach so vielen Jahren wieder anzufangen.
    Ich dachte, sage ich, dass es nichts Sinnloseres gibt als Hochhäuser aus Streichhölzern, es sei denn, sie brennen.
    Sehr aphoristisch, sagt Clara, ich werde dich zitieren. Die Wahrheit aber ist, dass deine Jessie zu einer Bande von Drogenhändlern gehörte, die andere Leute abhängig machen, damit sie für sie arbeiten.
    Das hast du nett und harmlos ausgedrückt, sage ich. Und welche Arbeit sollte ich deiner Meinung nach für Jessie erledigen?
    Das, sagt sie, wirst du mir schon noch erzählen.
    Als ich aufstehe, schlägt der DAT-Recorder gegen die Sitzfläche der Bank.
    Pass doch auf, fährt Clara mich an.
    Sie ist sauer, weil wir keine Aufnahmen machen.
    Hier, sage ich, haben wir uns immer gestritten.
    Vor uns fallen die Terrassen des Neunten Bezirks ab, hier ist die Stadt steil. Ein Stockwerk, das flach zur Straße hingeduckt durch Kellerfenster auf die Unterschenkel der Passanten starrt, kann nach hinten raus drei Meter hoch in der Luft durch große Glasscheiben einen parkähnlichen Innenhof überblicken. Zwischen den Häusern senken die Gassen sich Treppe für Treppe den Hang hinunter. Ich fasse Claras Ellenbogen, auch die Abschnitte zwischen den Stufen sind abschüssig, man stolpert leicht.
    Darum ging’s, sage ich.
    Er ist unverändert, der schwarze Mann. Er dehnt sich über die ganze Höhe der Mauer, kräftig gesprayt und nur aus Umrissen bestehend, die Arme hochgeworfen und ohne Gesicht bis auf zwei violette Augen. Sein Körper verjüngt sich nach unten, die Beine laufen aus zu einer gewundenen Spur, die am Fuß der Mauer abknickt und sich am Boden fortsetzt, immer schmaler werdend in einem Rinnsal, das schließlich im Gully in der Mitte des Wegs verschwindet.
    Und, fragt sie.
    Na, was macht der da, frage ich.
    Ganz klar, sagt sie, er läuft ab.
    Genau, sage ich, und das wollte Jessie nicht wahrhaben. Sie beharrte darauf, dass er heraussteigt aus dem Abfluss wie der Geist

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