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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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aus der Flasche.
    Aber er hat doch diese panischen Augen, sagt Clara.
    Eben deshalb, sage ich. Weil er zum ersten Mal die Welt erblickt.
    Als wir Musik hören, biegen wir um eine Ecke und stolpern ins Café Freud. Die letzten Gäste, ein Mädchen in grüner Perücke und ein alter Mann, tanzen Tango zu Walzermusik. Als Clara an die Bar tritt, streckt der Kellner die Hand nach ihren Haaren aus.
    Für dich, sagt er zu mir, ist Wodka ausverkauft.
    In einer Lücke zwischen den aufgereihten Biergläsern sehe ich mein Gesicht im Spiegel hinter dem Regal, es ist unrasiert, schattig, dann noch das dunkle Haar darüber, fast könnte es einem Albaner gehören. Mein Blick rastet ein, wird zur Achse, um die ich gleich losrotieren werde, immer schneller, wie ein Windrad, wenn auch nicht sonnengelb. Wind genug macht der Kellner, etwas fasst mich an der Schulter, das ist er. Die Musik bricht ab, mein Blick löst sich, ich höre im Rücken die Schritte des Paares, das weitertanzt. Clara neben mir kippt den Wodka, den er ihr hingestellt hat. Als Nächstes fasst er nach ihrem Hals, und ich weiß, dass er auch nach Jessie gefasst hätte, wenn sie hier wäre. Meine Hand schnellt vor und packt seinen Schopf, ein fester Halt, das ist keine Perücke. Vorsichtshalber bremse ich meinen Arm, so gut es geht. Die Stirn des Kellners trifft die Kante der Bar. Nichts passiert, er blutet nur. Er schaut mich entsetzt an, vielleicht erblickt er gerade das Licht der Welt, jedenfalls sind seine Augen violett. Als er einen Schritt vortaumelt, beginnt Jacques Chirac neben mir zu knurren. Das höre ich zum ersten Mal. Er kriegt seine gummiartigen Lefzen nicht hoch genug gezogen, um die Zähne zu zeigen, aber das ist auch gar nicht notwendig. Ich beuge mich vor und nehme die Flasche Wodka aus der Batterie, wir verlassen das Café.
    Tut mir leid, sage ich, ein Ausrutscher.
    Schon gut, sagt Clara.
    Sie lächelt geschmeichelt. Vielleicht ist sie doof genug zu glauben, ich hätte SIE verteidigen wollen.
    Wir erreichen den Donaukanal und biegen rechts ab. Jacques Chirac verschwindet auf federnden Beinen zwischen den Büschen am Rand der Promenade. Clara setzt die Wodkaflasche an, ohne stehen zu bleiben, ich höre, wie der Flaschenrand gegen ihre Schneidezähne schlägt. Ein dünnes Rinnsal läuft ihr übers Kinn, sie wischt es nicht ab, die Haut glänzt feucht, wenn wir unter einer Straßenlaterne vorbeikommen.
    Alles klar, frage ich.
    Hinter dem Kanal steht der volle Mond auf der schwarzen Fläche des Himmels, ein offener Cremetopf, in dem Kinder- und Erwachsenenfinger Hügel und Mulden hinterlassen haben. Darunter Baumkronen, dicht beieinander wie Hinterköpfe vor einer Konzertbühne. Auf der Wiese liegen flache Haufen aus frisch gemähtem Gras.
    Gibt es hier keine Innenstadt, fragt sie.
    Doch, sage ich, überall.
    Aber Erster Bezirk?
    Nicht für uns heute Nacht, sage ich, das ist für Fortgeschrittene.
    Du meinst, wegen Rufus’ Kanzlei?
    Ihre Zunge ist schwer. Ich antworte nicht und sie scheint die Frage wieder zu vergessen. Unter einer der Brücken bleibt sie stehen.
    Früher, sagt sie, habe ich mir unter Brücken immer vorgestellt, es würde draußen regnen. Und dann habe ich gewartet, bis der Regen aufhört, und bin zu spät nach Hause gekommen.
    Das Licht fällt schräg unter die Brücke und teilt ihr Gesicht in zwei Hälften, eine helle und eine dunkle. Ich fasse ihre Hände und drehe die Handflächen nach oben. Sie sind ganz dunkel vom Straßenschmutz, auch die Fingernägel sind schwarz, ich tätschele ihr die Wange und lächele, brav machst du das, jetzt noch die Haare ab und ein Stück von den Beinen wegschneiden, dann sind wir nah dran.
    Red weiter, sage ich.
    Früher, sagt sie, wollte ich auch immer ein Pferd. Damit die Eltern sehen, dass ich es versorgen kann, habe ich ein Handtuch über das Balkongeländer gehängt und es jeden Morgen und Abend gestriegelt, gefüttert und getränkt.
    Und, frage ich.
    Sie dachten, sagt sie, ich spiele.
    Diese Geschichten, sage ich, gefallen mir besser als die von der kalten Badewanne.
    Ich war ein unglückliches Kind, sagt sie, auf meinen Balkonen wird bis ans Ende meiner Tage ein Handtuch hängen.
    Ja, sage ich, und du wirst immer Balkone haben.
    Sie ist besoffen, sie sieht aus, als würde sie gleich zu heulen anfangen. Das ist Wien, die Stadt packt einen an den Schultern und dreht einen um, dass man immer nach hinten guckt, in die Vergangenheit.
    Lass uns umkehren, sage ich, es hat aufgehört zu

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