Adler und Engel (German Edition)
herausgeschnittene Zungen.
Wie was bitte?, fragte ich.
Engelszungen, sagte sie, die mit dem Regen heruntergekommen sind. Vor allem kleben sie am Brunnen. Ich sitze auf dem Rand und werfe Steine runter und warte, dass man den Aufschlag hört. Aber man hört nichts, einfach nichts.
Ich spielte mit den Schreibtischutensilien, wehrte mich gegen das Gefühl, etwas Intelligentes sagen zu müssen, und versuchte zu glauben, dass sie nur Unsinn redete auf eine Art, die alles wie Orakelsprüche klingen ließ.
Vielleicht hast du nicht lange genug gewartet, sagte ich.
Ich habe Stunden gewartet, sagte sie. Der Boden ist schon ganz schlammig. Alle Kiesel herausgekratzt und in den Brunnen geworfen.
Mach nur weiter, sagte ich, dann hast du ihn eines Tages aufgefüllt und kannst den Grund sehen.
Dann ist er innen voll, sagte sie, und steht in einem großen Krater wie ein Schornstein.
Ich sagte nichts und schob den leeren Rolltisch, mit dem morgens die Akten auf die Büros verteilt wurden, in die Mitte des Raums und wieder zurück.
Das ist auch sicherer, sagte sie, wenn wir mal Kinder haben. Sie können nicht mehr auf den Brunnen hinauf, und wenn sie doch oben wären, könnten sie nicht hineinfallen.
Irrwitzigerweise beglückte mich der Gedanke, dass sie Kinder mit mir wollte. Dann fiel mir ein, dass »wir« wahrscheinlich nicht mich einschloss, sondern Shershah.
Die Kinder können immer noch von oben herunterfallen, sagte ich, in den Krater hinein.
Wir werden drei haben, sagte sie, dann bleiben noch zwei, wenn eins herunterfällt.
Ist Shershah gerade bei dir, fragte ich.
Es kostete mich Überwindung, diese Frage zu stellen, weil ich Angst vor der Antwort hatte, aber Jessie zog es ohnehin vor, nicht darauf zu reagieren. Wir schwiegen beide.
Ich muss jetzt Schluss machen, sagte ich endlich. Setz dich wieder auf deinen Brunnenrand.
Sitz ich doch, sagte sie. Ich werfe jetzt noch einen Kiesel. Diesmal warte ich so lange, bis ich es zischen höre, wenn er im Erdmittelpunkt verglüht.
Und wenn es inzwischen Winter wird, sagte ich, hörst du das Zischen nicht, weil deine Ohren zugefroren sind.
Ich legte auf und dachte, dass Jessie eher vom Mars aus angerufen hatte als von einem Brunnenrand.
Und was ist da drin, fragt Clara.
Nichts, sage ich, was eben so in Brunnen drin ist.
Und was ist das so?, fragt sie. Ich bin nicht gut in Brunnenkunde.
Das Besondere an diesem Brunnen ist, sage ich, dass man einen Stein hineinwerfen kann, ohne einen Aufschlag zu hören.
Was, sagt Clara, du spinnst doch. Mach die Platte weg.
Einen Teufel werde ich tun, sage ich.
Ich gehe zurück zum Schuppen und sie läuft mir nach.
Bitte Max, sagt sie.
Verpiss dich.
Bitte!
Ich starre ihr ins Gesicht. Sie trampelt von einem Fuß auf den anderen. Sie regt mich auf, als wäre sie eins von Jessies und Shershahs nicht im Brunnen ertrunkenen Kindern und ich nicht dazu berechtigt, ihr den Hals umzudrehen.
Ich mache es, sage ich, wenn du auf der Stelle dein stinkendes T-Shirt und deinen BH ausziehst und nackt drei Mal auf und nieder hüpfst.
Sie hört sofort auf zu trampeln.
Was soll denn der Scheiß, fragt sie, erregt dich das irgendwie körperlich?
Unsinn, sage ich, du bist schon im bekleideten Zustand in der Lage, alle männliche Potenz im Umkreis von hundert Metern zu vernichten.
Soweit ich weiß, sagt sie, ist das bei dir gar nicht mehr nötig.
Stimmt genau, sage ich, folglich habe ich nichts zu verlieren. Ich will mir nur noch einmal klar vor Augen führen, dass du wirklich nicht den geringsten Funken Selbstachtung besitzt.
Ach so, sagt sie, das kannst du gerne haben.
Ich gieße mir den Rest Kaffee ein, es ist nur ein Fingerbreit, aber stark wie eine Packung Koffeintabletten. Als ich wieder aufsehe, hat sie ihren Oberkörper frei gemacht. Sie hat eine schmale Taille und ihre Brüste sind gut proportioniert, aber ihre Brustwarzen sehen aus, als wären sie von zwei verschiedenen Frauen geliehen. Die linke ist hellrosa, flach und klein; die rechte scheint einer reiferen Frau zu gehören, etwas größer und bräunlich getönt sitzt sie einen Fingerbreit weiter außen. An Clara sieht das aus wie eine Behinderung. Ihre Brüste schielen mich an, es ist so komisch, dass ich mich abwenden muss, ich schaue durch die offene Tür, ich sehe Herkules’ Füße, ich sehe Jacques Chirac nachdenklich auf der kleinen Mauer sitzen. Ich höre, wie sie hinter meinem Rücken hüpft, drei Mal stoßen ihre Fersen hart auf den Holzboden. Mit wenigen Schritten
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