Adorkable - Zwei, die sich hassen und lieben
Jeane so kurz angebunden, dass es schon fast, aber eben noch nicht ganz unverschämt war. Sie hörte außerdem nicht auf, ihre Salatschüssel argwöhnisch zu beobachten, als ob die Gefahr bestünde, dass diese plötzlich hochspringen und auf sie losgehen könnte. Das Licht, das von den Silberfäden ihrer Strickjacke reflektiert wurde, verlieh ihrem Gesicht eine gespenstische Blässe, und dann saß da noch Roy mit seiner Krawatte und seinen hochnotpeinlich über die Glatze gekämmten Haaren und diesem sehr, sehr traurigen Gesicht, und ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen: Wie um alles in der Welt könnt ihr beide bloß miteinander verwandt sein? Wie habt ihr es geschafft, sechzehn Jahre lang zusammen im gleichen Haus zu leben? Wie ist es möglich, dass ihr bei Garfunkels überhaupt am gleichen Tisch sitzt?
In diesem Moment sah Jeane von ihrer Salatschüssel auf und fing meinen Blick auf. Ich hatte sie noch nie so verloren gesehen. Sie sah so unglücklich aus wie Roy, und ich war einen Moment lang versucht, sie mir zu schnappen und mit ihr an einen Ort zu rennen, an dem sie strahlen und großmäulig sein und riesige Mengen an Haribo verdrücken konnte.
»Das hier ist die Hölle«, sagten ihre Lippen lautlos. »Können wir nicht einfach abhauen?«
Während ich ernsthaft darüber nachdachte, wurde der Hauptgang gebracht. Es gab noch einmal eine kurze Aufregung, als es so aussah, als sei doch tatsächlich Sandras Kartoffelbrei vergessen worden, aber das war schnell geklärt, und so aßen wir zu viert in angespannter Stille unser Abendessen.
Sobald sich der Kellner auf unsere leeren Teller gestürzt und sie abgeräumt hatte, stand Jeane auf. »Ich muss mal«, kreischte sie laut, schnappte sich ihre Tasche und galoppierte in Richtung Damentoilette davon. Ich war mir hundertprozentig sicher, so sicher, wie ich wusste, wie viele Tore Robin van Persie in seiner Karriere für Arsenal geschossen hatte, dass sie ihre Qualen in einem Twitterrausch kanalisieren würde. Ich griff nach der Dessertkarte, als ob sie ein Rettungsgurt sei, und lächelte Roy und Sandra ermattet an.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Roy. »Sie hat ihr Omelett fast nicht angerührt.«
»Tja, vielleicht war sie noch von ihrem Salat satt«, sagte ich, obwohl Jeane nur die Speckcroûtons gegessen hatte.
Roy schüttelte den Kopf. »Früher, als sie klein war, ist sie immer gerne zu Garfunkels gegangen. Ich habe nie wieder ein Kind gesehen, dass bei dem Gedanken an einen Schoko-Sundae-Becher so komplett aus dem Häuschen geraten konnte.«
Jeane war immer noch das gleiche Mädchen. Einige ihrer glücklichsten Momente verbrachte sie mit schlechtem Fernsehprogramm, bei dem sie sich durch eine Riesentüte Süßigkeiten wühlte, aber ich glaube, dass Roy dieses Mädchen schon lange nicht mehr gesehen hatte. Trotzdem, er bestellte ihr einen Schoko-Sundae, und als sie endlich wieder an den Tisch zurückkam, schenkte sie ihm immerhin ein schmallippiges Lächeln und sagte Danke, obwohl sie normalerweise, wenn jemand auch nur versuchte, etwas zu essen für sie zu bestellen, in eine wütende Rede über das komplexe, ambivalente Verhältnis, das Mädchen zu ihrem Körper und zum Essen hatten, und vielleicht auch noch zum Thema Patriarchat ausgebrochen wäre.
Ich hatte gedacht, dass ich mindestens die Hälfte aller Teile, die Jeane ausmachten, hasste, aber diese verstummte Jeane mit dem tieftraurigen Gesicht hasste ich am allermeisten. Als sie sich wieder setzte, konnte ich nicht anders, als verstohlen nach ihrer Hand zu greifen und sie zum Trost zu drücken, und was das Schlimmste war: Sie ließ es sogar zu.
»Also, Jeane, wir haben darüber nachgedacht, Roy und ich, ob du nicht Weihnachten mit uns verbringen möchtest?«, wagte Sandra sich schüchtern vor, während Jeane ihren Schokoladen-Sundae mit dem Enthusiasmus einer Gefängnisinsassin aß. »Bei uns im Apartmentkomplex ist eine reizende Familie eingezogen, farbig, obwohl sie Deutsche sind, aber sie sind sehr nett und haben zwei Töchter in deinem Alter, mit denen du spielen könntest.«
Zunächst schwieg Jeane, weil sie damit kämpfte, ein Stück Schokoladen-Brownie vom Boden ihres Sundae-Bechers nach oben zu befördern.
»Ich weiß natürlich, dass du die Costa Brava nicht für den aufregendsten Ort der Welt hältst, aber es wäre doch vielleicht schön, wenn wir Weihnachten zusammen verbringen könnten«, sagte Roy und rieb sich nervös die Hände. »Ich habe für das Gästezimmer einen alten
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