Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
antworten soll. »Das klingt ein bisschen extrem.«
»Glauben Sie wirklich? Ich nicht.«
»Nun ja, ich …«
Jiao bringt sie mit erhobenem Finger zum Schweigen. »Wir alle verlieren unsere Schönheit eines Tages, Miss Masters. Wir alle. Das sollten Sie nie vergessen.«
»Der Tag liegt für Sie noch weit in der Zukunft.«
Jiao lächelt. »In den Augen des Mannes, den ich glaubte, haben zu wollen, ist der Tag schon verstrichen. Das habe ich vor langer Zeit geahnt und versucht, es zu leugnen. Ich war eine Närrin.«
Caitlin bleibt stumm.
»Was soll ich für Sie tun?«
68
E s ist achtzehn Uhr, als Kelly und ich auf der Pierce’s Mill Road zur Magnolia Queen fahren. Die flammende Sonne geht über den Brücken hinter uns unter. Ich hätte das Gespräch gern früher geführt, doch es ist nur meinem Glück zu verdanken, dass es überhaupt stattfindet. Hätte der Memorystick nicht den juristischen Sprengstoff enthalten, den ich mir erhofft hatte, wäre ich von Hull zum Teufel geschickt worden. Trotzdem hat er versucht, mir einen Stein in den Weg zu legen, indem er ein rasches Treffen nur zwischen uns beiden vorschlug. Doch ich bestand auf Sands’ Gegenwart, und Hull zwang ihn, auf meine Wünsche einzugehen. Inzwischen habe ich dadurch Auftrieb bekommen, dass Sands die Begegnung unbedingt an Bord der Magnolia Queen arrangieren wollte. Ich hatte befürchtet, dass ich selbst diesen Verhandlungsort vorschlagen musste, doch Sands betrachtet es als Sieg, dass wir ihn auf seinem eigenen Territorium aufsuchen.
»Woran denkst du?«, fragt Kelly und bremst seinen 4Runner auf dem langen Hang ab.
»An nichts.«
»Quatsch.«
Zu meiner Linken glüht der Mississippi River orangerot in der sinkenden Sonne, und knapp fünfhundert Meter unter uns lassen die Schornsteinimitationen der Magnolia Queen an das erste Bild einer Technicolor-Version von »Huckleberry Finn« denken. »Wirklich. Immer wenn ich ein Gericht zu einem Schlussplädoyer oder zu einem entscheidenden Kreuzverhör betreten musste, habe ich improvisiert. Mir schien, dass ich ohnehin keine Chance hatte, wenn ich nicht schon vorher alles Nötige wusste.«
»Schwer zu sagen, ob ich mich nun besser oder schlechter fühle.«
»Alles hängt von Hull ab. Ich dachte, er wäre ein Washingtoner Paragrafenreiter, aber je öfter ich mit ihm rede, desto deutlicher wird, dass er ein ausgebuffter Profi ist. Andererseits arbeitet er zu lange an diesem Fall. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie es ist, einen Mann wie Sands als Informanten an der Leine zu halten. Wahrscheinlich haben die beiden inzwischen Ähnlichkeit mit zwei Skorpionen in einer Flasche.«
Kelly lacht schadenfroh. »Ohne Zweifel.«
»Hull und ich werden uns kaum anders verhalten. Oder vielleicht eher wie Boxer. Die Idee, dass ich ein Abhörgerät bei mir trage, war genial. So können wir ihn vielleicht dazu bringen, sich eine Blöße zu geben.«
»Nichts erhöht die Siegeschancen so sehr wie der irrige Gedanke des Feindes, dass er dir deine Geheimwaffe schon abgenommen hat.«
In meinem Gürtel ist ein Digitalsender versteckt, den Kelly in seinem Seesack von Blackhawk mitgebracht hat. Nachdem Kelly das Feuersteinmesser in Sands’ Büro einschmuggelte, sind wir sicher, dass Quinn jeden Quadratzentimeter unseres Körpers durchsuchen wird, bevor er uns in Sands’ Nähe lässt. Wenn er dabei auf den Sender stößt, dürften die beiden Iren und Hull überzeugt sein, dass wir keine andere Möglichkeit haben, das Gespräch aufzuzeichnen. Danach hängt alles davon ab, ob Sands uns in sein Büro oder in den Vernehmungsraum unter Deck führen lässt.
»Weißt du, was mich beunruhigt?«, fragt Kelly.
»Was?«
»Ob Jiao die Abhörgeräte wirklich dort versteckt hat.«
»Du meinst, wo sie es tun sollte?«
Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Ich meine, ob sie es überhaupt getan hat.«
»Bestimmt. Verschwende keine Gedanken daran.«
»Warum bist du so sicher?«
Ich wende mich mit einem leichten Lächeln zu ihm. »Ein verschmähtes Weib ist die Hölle, Bruder. Das ist ein universales Gesetz. Wie die Schwerkraft.«
Der Hang begradigt sich endlich, und Kelly stoppt den 4Runner neben dem riesigen Kahn mit seinen Dampfschiffimitationen. Die Magnolia Queen lässt alles in der Umgebung winzig erscheinen, und nur die Stahlkabel über unseren Köpfen, mit denen sie am Ufer vertäut ist, machen deutlich, dass es sich nicht um ein Gebäude, sondern um ein Schiff handelt. Ein Page in roter Uniform nähert sich dem
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