Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
gehüllt.
Ist Tim noch hier? Ich kann kein an der Friedhofsmauer geparktes Auto entdecken, doch auch gestern Nacht habe ich keines gesehen. Ich weiß immer noch nicht, wie Tim sich mir aus dem hinteren Teil des Friedhofs genähert hat, denn die einzigen Eingänge, die ich kenne, liegen der Cemetery Road gegenüber. Aber ein alter Junkie wie Tim weiß vermutlich einiges mehr als ich über die verlassenen Gegenden der Stadt.
Vor einer Stunde plante ich, mein Auto an einer besser geschützten Stelle als gestern Nacht abzustellen, doch dazu bleibt nun keine Zeit mehr. Ich bremse am Fuß des Jewish Hill, nehme die Pistole aus meiner Aktentasche, stecke sie mir in den Hosenbund und steige aus. Nach ein paar schnellen Schritten durchquere ich die Hecke hinter der Mauer. Dann klettere ich den steilen Hang hinauf, in Richtung der Bank und des Flaggenmastes.
Wie ich befürchtet habe, wartet niemand auf dem Gipfel. Das war auch gestern nicht der Fall, doch heute habe ich aus irgendeinem Grund ein komisches Gefühl. Die Stille zwischen den Grabmalen ist eine andere. Die Luft scheint nicht ganz ruhig zu sein, als wäre sie vor Kurzem umgerührt worden, und die Insekten sind stumm. Es könnte daran liegen, dass sich jemand nähert, aber mein Instinkt spricht dagegen. Mich überkommt die schreckliche Gewissheit, dass Tim bereits hier gewesen und dann verschwunden ist. Ich drehe dem Fluss und dem Mond den Rücken zu, schreite tiefer in die marmorne Nekropolis hinein und suche in der Dunkelheit nach einer Bewegung.
Aus dem Pulsieren meines Blutes wird ein tiefes Grollen, doch es ist so leise, dass meine Ohren es kaum wahrnehmen. Es scheint aus dem Boden zu kommen und an der Oberfläche zu vibrieren. Sekunden später begreife ich, dass ich die Motoren eines Schubschiffes höre, das eine lange Reihe von Kähnen flussaufwärts schiebt; seine massiven Kolben drücken ein unvorstellbares Gewicht gegen die Strömung. Ich drehe den Kopf und sehe das rote und grüne Licht am Bug des vorderen Kahns, der eine Drittelmeile vom Heck des Schubschiffes entfernt ist. Die Tonlage des Motors ändert sich, während das Schiff nach Norden vordringt, und sein stetes Dröhnen verwandelt sich in ein helles Summen. Ein blauer Halogenschein zieht sich über den Himmel und trübt das Buglicht des vorderen Kahns. Mir wird klar, dass ein Fahrzeug unter mir auf der Cemetery Road vorbeirollt. Es kommt aus Richtung Devil’s Punchbowl und steuert auf die Stadt zu.
Ich bin schon zu weit auf den Friedhof vorgedrungen, um das Fahrzeug erkennen zu können. Einem Impuls folgend, laufe ich am Gipfel des Jewish Hill entlang zurück, aber es ist zu spät. Ich sehe nur vertikale Rücklichter, die durch die Blätter der uralten Eichen im unteren Teil des Friedhofs blinken, wo Sarah begraben ist. Die Rücklichter scheinen mir eher zu einem Lastwagen oder einem SUV als zu Tims Sentra zu gehören.
Meine Uhr zeigt 12.37 Uhr an. Die Pistole in meinem Hosenbund ist unbequem, wenn auch nicht ganz unvertraut. Als Ankläger für Kapitalverbrechen in Houston musste ich manchmal über längere Zeiträume hinweg eine Waffe tragen. Sogar nachdem ich diesen Posten aufgegeben und mich der Schriftstellerei zugewandt hatte, wurde ich durch gewisse Umstände veranlasst, zu meinem Schutz eine Pistole bei mir zu haben. Und bei mehreren Gelegenheiten musste ich sie benutzen, manchmal mit tödlichen Folgen.
Ich verspüre das beinahe unerträgliche Verlangen, Tims Handy anzurufen, tue es aber nicht. Vielleicht ist die Erklärung ganz einfach. Vielleicht hat Tim sich noch mehr verspätet als ich. Er könnte aufgehalten worden sein.
Ich setze mich auf eine niedrige Grabmauer, von der ich einen guten Ausblick auf die Cemetery Road habe. Da meine Mutter auf Annie aufpasst, kann ich mir leisten, Tim eine Stunde meiner Zeit zu gönnen. Ich wünschte nur, ich hätte eine Tasse Kaffee, um nicht zu frösteln und wachsam zu bleiben. Am liebsten würde ich mein Handy neben mir auf die Mauer legen, aber sein Licht könnte meine Position verraten, wenn ich beobachtet werde.
Mein Körper entspannt sich gerade, als das Handy in meiner Tasche vibriert und mich aufspringen lässt. Ich ziehe es hervor und drücke es mit der Hand an die Brust wie jemand, der sich im kräftigen Wind eine Zigarette anzündet. Ich kenne die Nummer nicht, aber sie enthält eine Mississippi-Inlandsvorwahl und die Ortskennzahl von Natchez.
»Hallo?«, melde ich mich.
»Ist da Penn Cage?«, fragt eine vertraute und
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