Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
eine Träne aus dem Auge.
»Na los«, sage ich und führe sie an der langen Reihe hell erleuchteter Jahrmarktstände vorbei, einer hygienischeren Version der schäbigen Schaustellerbuden, die in meiner Kindheit am Ortsrand errichtet worden waren. Die heiseren Stimmen der Marktschreier können die Verwirrung, die mein kleines Mädchen umgibt, kaum durchdringen. Aber so traurig sie ist, weiß ich doch, dass Annies Kummer, Libby als potenzielle Muttergestalt verloren zu haben, durch die Hoffnung abgeschwächt wird, dass Caitlin nicht nur zur Berichterstattung in Natchez erschienen ist. Wäre nicht meine Furcht um Tim Jessup, könnte ich wahrscheinlich auch nichts anderes denken.
Dann explodieren die ersten Raketen, sodass der Himmel über dem Fluss sich mit zischenden blauen und weißen Lichtbögen füllt. Ich halte meine Tochter an der Hand. Die Liebe ist nicht fern, das Leben schön. Aber nicht weit von hier riskiert Tim Jessup alles, was er hat, um ein für ihn unerträgliches Unrecht zu beseitigen.
Sei bloß vorsichtig, Tim, flehe ich ihn stumm an. Versuch nicht, ein Held zu sein. Die meisten Helden, die ich kenne, sind tot.
9
I ch benötigte meine ganze Willenskraft, Tim nicht anzurufen und ihm keine SMS zu schicken, nachdem meine Mutter Annie endlich bewogen hatte, ins Bett zu gehen. Das war um 22.30 Uhr. Die folgende Stunde war so langsam wie ein Auto im ersten Gang, und ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, zwei Gläschen Wodka hinunterzukippen, um das Warten besser ertragen zu können. Als ich dann endlich aufbrach, verabschiedete meine Mutter mich, ohne eine Frage nach meinem Ziel zu stellen. Wahrscheinlich vermutete sie, dass ich eine Frau besuchen würde, und ich belehrte sie keines Besseren. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, eine Pistole aus dem Haus zu schmuggeln. Am Ende beschloss ich, meine kurzläufige 357er Magnum in die Aktentasche zu stecken und sie an ihr vorbei zum Auto zu tragen.
Nun fahre ich die Washington Street entlang und muss bis zu meinem Treffen mit Tim noch eine halbe Stunde totschlagen. Da ich ungefähr zwei Meilen Luftlinie vom Friedhof entfernt bin, kann ich mir in aller Ruhe überlegen, weshalb Tim es für nötig hält, dass ich eine Waffe mitbringe. Dann aber klingelt mein Handy. Am Apparat ist nicht Tim, wie ich erwartet hatte, sondern Libby Jensen. Sie ist so aufgeregt, dass ich ihre Worte kaum verstehe. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, dass sie erschüttert über unsere Beziehung ist, doch dann wird mir klar, dass sie über Soren spricht.
»Sie haben ihn verhaftet!«, schluchzt Libby. »Er soll über Nacht im Gefängnis bleiben. Sie glauben, dass er den Wagen gefahren hat.«
»Ganz langsam. Was ist passiert?«
»Es hat einen Unfall gegeben.« Ihre Stimme ist der Hysterie immer noch nahe. »Ich bin nicht sicher, was passiert ist. Soren saß in einem Auto, das mit einem anderen Wagen zusammengestoßen ist. Die Polizei sagt, er saß am Steuer, aber Soren bestreitet es.« Ihre Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Penn, er ist so betrunken, dass ich nicht weiß, ob ich ihm glauben kann. Zumindest hoffe ich, dass er betrunken ist. Vielleicht haben sie Drogen gefunden, aber sie verschweigen mir die Einzelheiten. Ich habe schreckliche Angst. Du weißt, was Mackey beim letzten Mal gesagt hat.«
Bei dem Vorfall, auf den Libby anspielt, wurde Soren mit Lorcet Plus und Adderall erwischt. Auf meinen Rat engagierte Libby meinen einstigen Kommilitonen Austin Mackey, der früher Bezirksstaatsanwalt gewesen war, als gesetzlichen Vertreter ihres Sohnes. Mackey schlug gegen mein besseres Wissen vor, ich solle meinen Einfluss beim derzeitigen Bezirksstaatsanwalt Shadrach Johnson nutzen, damit Sorens Fall nicht vor Gericht kam. Wie sich herausstellte, hatte Mackey recht: Nachdem ich meinem alten politischen Gegner genug Gefälligkeiten versprochen hatte, wurde die Verhaftung wegen Drogenbesitzes aus Sorens Register entfernt. Wenn Libby zu jenem Zeitpunkt unserer Beziehung noch nicht in mich verliebt war, wurde der letzte Schritt an jenem Tag vollzogen.
»Bist du schon aufgebrochen?«, fragt Libby mit schriller Stimme. »Wo bist du? Bist du unterwegs?«
»Haben sie ihn verhaftet?« Ich blicke auf die Uhr. Zweiundzwanzig Minuten vor Mitternacht. »Wurde Anklage gegen ihn erhoben?«
»Das weiß ich nicht! Ich bin zu keinem klaren Gedanken fähig. Was werden sie mit ihm machen?«
Das, was sie wahrscheinlich beim letzten Mal schon hätten machen sollen, antworte ich stumm.
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