Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Menschenkenner, Hans.« Ich schaudere zusammen, als die Hülle ein Reißgeräusch von sich gibt, doch Necker lacht nur und drückt mir beruhigend den Arm. »Das ist normal. Diese Dinger scheinen bei starkem Wind auseinanderzufallen, aber das liegt nur daran, dass die Takelage so flexibel ist. Können Sie sich vorstellen, wie ein alter Klipper geklungen haben muss, wenn er über den Atlantik gejagt ist?«
Während wir über den Highway 61 dahinrasen und auf hundertsechzig Meter Höhe steigen, wiederhole ich stumm mein Mantra des Tages: Unfälle sind selten, Unfälle sind selten … Ich hoffe, dass wir heute auf niedriger Höhe bleiben werden. Im letzten Jahr gerieten ein anderer Ballonfahrer und ich in einen Aufwind und wurden eine Meile über Louisiana »festgehalten«. Statt wie die meisten Passagiere einen romantischen Flug zu erleben, war ich in den Wolken gestrandet und hatte eine ähnliche Aussicht wie aus einem Verkehrsflugzeug, den Blick auf geometrisch angelegte Farmen und Straßen und auf Autos von Ameisengröße. Aber heute liegen die Wahrzeichen der Stadt mit der wunderbaren Klarheit eines Oktobermorgens unter mir. Rechts ist das Grand Village der Natchez-Indianer, ein Teppich aus grünen Wiesen und Grabhügeln neben St. Catherine’s Creek. Ich habe kaum Zeit, mich anhand der Grabhügel zu orientieren, bevor wir weiter in Richtung des Flusses jagen.
»Ich bin froh, dass Sie es geschafft haben«, sagt Necker und klopft mir auf den Rücken. »Es sieht gut für uns aus. Wahrscheinlich war es ein Glück, dass Sie sich verspätet hatten.«
»Schön, dass ich Ihnen helfen konnte. Es ließ sich wirklich nicht vermeiden.«
Necker nickt, stellt mir aber keine Fragen. »Man hat das Rennen verkürzt. Wir brauchen nur noch das erste Ziel zu erreichen. Niemand wird bei diesem Wind gut manövrieren können.«
Ich versuche, mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen, dass es ein kurzer Flug wird. Manche Ballonrennen sind lang und kompliziert wie amtlich verordnete Hochzeitszüge. Andere sind kurz und chaotisch wie Autojagden durch eine Innenstadt; dabei versuchen die Ballonfahrer, unsichtbare Gegenwinde zu erahnen, und fühlen sich wie Orakel vor der Offenbarung. Das heutige Ereignis gehört in die zweite Kategorie, doch die scheinbar endlose Reihe von Ballons hat etwas Majestätisches an sich. Sie erstreckt sich vom Louisiana-Delta vor uns zurück bis zum Buck Stadium, das nur noch eine Falte am grünen Horizont ist. Zwei Hubschrauber fliegen am Kurs entlang wie Cowboys, die auf eine widerspenstige Rinderherde aufpassen, aber keine Kontrolle über sie haben. Die Ballons treiben dorthin, wohin der Wind sie bläst.
Necker hat die Winde gut gedeutet. Während Highway 61 nordwärts nach Vicksburg und zum Delta abweicht, halten wir westlich auf Louisiana zu. Weit rechts sehe ich die verlassene Johns-Manville-Fabrik, links die geschlossenen Rollläden der International Papermill und die versengte Narbe, die von der Triton Battery Company übrig geblieben ist. Diese Fabriken entstanden zwischen 1939 und 1946; die letzte schloss ihre Tore erst vor ein paar Monaten. Das also ist aus den Schornsteinindustrien von Natchez geworden. Aber die Schönheit der Stadt ist ungeschmälert. Aus dieser Höhe wird deutlich, dass der moderne Ort auf Dutzenden alter Plantagen erwuchs und dass die Gegend mehr Wald als offene Flächen besitzt. Bei dem Anblick sehne ich mich nach den Tagen vor der Holzindustrie zurück, als ein Eichhörnchen sich angeblich von Mississippi nach North Carolina begeben konnte, ohne ein einziges Mal den Boden zu berühren.
Während die Innenstadt von Natchez unter uns dahinzieht wie ein Gespenst aus dem neunzehnten Jahrhundert, höre ich Bässe und Trommeln auf dem Festivalfeld neben Rosalie dröhnen. Eine Sekunde später sehe ich, wie die Menge anschwillt und wie ein Ameisenschwarm vor der Bühne wimmelt. Dann sind wir über dem Fluss, dessen breite, rötlich-braune Strömung mit kleinen Ausflugsdampfern getüpfelt ist. Am Damm auf der anderen Seite stehen die Autos von Leuten, die zuschauen, wie die Ballons vorbeiziehen.
Weit vor mir, nahe dem Horizont, sehe ich unser Ziel: Lake Concordia, ein Altwassersee, geschaffen durch eine Flussbiegung, die vor langer Zeit abgetrennt wurde. Manchmal fahren Annie und ich dort Wasserski mit Freunden, die Motorboote besitzen, zum Beispiel mit Paul Labry und seinen Angehörigen. Der Gedanke an Labry versetzt mir einen Stich der Besorgnis. In meiner Eile hatte ich ihn,
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