Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
aussieht – parkt an einer Lieferrampe gegenüber von Louise Elwoods Laden. Die Hecktüren stehen offen. Auf der Ladefläche stehen Leinensäcke. Wahrscheinlich gibt es in Liverpool hunderte von weißen Transportern; möglicherweise eine ganze Flotte, die alle zu demselben Kurierdienst gehören.
Nach der vergangenen Nacht sehe ich in jedem Türeingang und jetzt auch in parkenden Wagen Schatten. Ich überquere den Marktplatz und bleibe vor dem Schaufenster eines Warenhauses stehen, in dem ich den Platz in meinem Rücken studiere. Niemand folgt mir.
H. L. Mencken – Journalist, Biertrinker und Weiser – hat einmal gesagt, dass es für jedes komplexe Problem eine Lösung gibt, die einfach, ordentlich und falsch ist. Ich teile sein Misstrauen gegenüber dem Offensichtlichen.
An der Uni habe ich meine Dozenten immer damit wahnsinnig gemacht, nahe liegende Vermutungen in Frage zu stellen. »Warum können Sie die Dinge nicht einfach als das akzeptieren, was sie sind?«, fragten sie mich. »Warum kann die einfache Antwort nicht richtig sein?«
Die Natur ist nicht so. Wenn es bei der Evolution um einfache Antworten gegangen wäre, hätten wir alle größere Gehirne und würden nicht Versteckte Kamera gucken. Mütter hätten vier Arme, und Babys würden ihr Zuhause nach sechs Wochen verlassen. Wir würden alle über Knochen aus Titan, UV-resistente Haut, einen Röntgenblick und die Fähigkeit verfügen, eine dauerhafte Erektion und mehrfache Orgasmen zu haben.
Bobby Morgan – ich werde ihn ab jetzt bei seinem richtigen Namen nennen – wies viele klassische Symptome von sexuellem Missbrauch auf. Trotzdem will ich, dass es nicht wahr ist. Lenny Morgan ist mir ans Herz gewachsen. Er hat vieles richtig gemacht bei der Erziehung von Bobby. Die Leute mochten ihn. Bobby bewunderte ihn.
Vielleicht hatte Lennys Persönlichkeit zwei Seiten. Nichts hält einen Missbraucher davon ab, gleichzeitig eine liebevolle Vertrauensperson zu sein. Das würde auf jeden Fall seinen Selbstmord erklären. Und es könnte auch der Grund dafür sein, dass Bobby zwei Persönlichkeiten braucht, um zu überleben.
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Das Jugendamt führt Akten über Kinder, die sexuell missbraucht worden sind. Früher konnte ich sie unbeschränkt einsehen, aber ich gehöre nicht mehr zum System. Die Datenschutzbestimmungen sind zwingend.
Ich brauche die Hilfe eines Menschen, den ich seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Sie heißt Melinda Cossimo, und ich habe Angst, dass ich sie vielleicht nicht erkenne. Wir verabreden uns in einem Café gegenüber dem Amtsgericht.
Als ich nach Liverpool kam, war Mel eine einfache Sozialarbeiterin. Jetzt leitet sie die Abteilung (und darf sich »Kinderschutz-Referentin«
nennen). Es gibt nicht viele, die es so lange in der Sozialarbeit aushalten. Entweder sie brennen aus oder sie explodieren.
Mel war ein klassischer Punk mit stacheligen Haaren, ramponierten Lederjacken und zerrissenen Jeans. Sie widersprach aus Prinzip jedem, weil sie es gern sah, wenn sich jemand für seine Überzeugungen stark machte, egal ob sie eine Meinung teilte oder nicht.
Sie war in Cornwall aufgewachsen und hatte ihren Vater, einen einheimischen Fischer, über »Männer- und Frauenarbeit« dozieren hören. Sie wurde fast vorhersehbar zur flammenden Feministin und Autorin von »Wenn Frauen die Hosen anhaben« – ihre Doktorarbeit. Ihr Vater dreht sich wahrscheinlich im Grab um.
Mels Ehemann Boyd war ein Junge aus Lancashire, der Khakihosen und Rollkragenpullover trug und selbst gedrehte Zigaretten rauchte. Er war groß und dünn und bekam mit neunzehn graue Haare, die er jedoch weiter lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ich habe es nur einmal offen gesehen, in der Dusche nach dem Badminton.
Sie waren großartige Gastgeber. Meistens trafen wir uns am Wochenende zum Essen auf Boyds heruntergekommener Terrasse mit dem »Windspiel«-Garten und den Cannabispflanzen, die in einem alten Fischteich wuchsen. Wir waren alle überarbeitet, ungewürdigt und immer noch idealistisch. Julianne spielte Gitarre, und Mel konnte singen wie Joni Mitchell. Wir verspeisten vegetarische Festessen, tranken zu viel Wein, rauchten ein bisschen Gras und retteten wortreich die Welt. Der Kater dauerte bis zum Montag, die Flatulenz bis Mitte der Woche.
Mel steht vor dem Fenster und zieht eine Grimasse. Ihr Haar ist glatt und nach hinten gesteckt. Sie trägt eine dunkle Hose und eine taillierte beigefarbene Jacke, an dessen Revers eine weiße Schleife
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