Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
geheftet ist. Ich kann mich nicht erinnern, für welche Wohltätigkeitsorganisation sie steht.
»Ist das dein Abteilungsleiter-Outfit?«
»Nein, nur das Alter«, sagt sie, dankbar, sich setzen zu können. »Diese Schuhe bringen mich um.« Sie streift sie ab und reibt ihre Knöchel.
»Shopping?«
»Ein Termin beim Familiengericht. Vorübergehender Sorgerechtsentzug wegen akuter Gefährdung des Kindeswohls.«
»Und ist es gut gelaufen?«
»Es hätte schlimmer sein können.«
Ich besorge Kaffee, während sie den Tisch besetzt hält. Ich weiß, dass sie mich abcheckt, um festzustellen, wie stark ich mich verändert habe. Haben wir noch etwas gemeinsam? Warum bin ich plötzlich aufgetaucht? Die Fürsorge ist eine argwöhnische Zunft.
»Und was ist mit deinem Ohr passiert?«
»Von einem Hund gebissen worden.«
»Man sollte nie mit Tieren arbeiten.«
»Das habe ich auch gehört.«
Mel beobachtet mich, während ich versuche, mit der linken Hand umzurühren. »Bist du noch mit Julianne zusammen? «
»Hm-hm. Wir haben jetzt Charlie. Sie ist acht. Ich glaube, Julianne ist vielleicht wieder schwanger.«
»Bist du dir nicht sicher?«, fragt sie lachend.
Ich lache mit ihr, habe jedoch plötzlich heftige Schuldgefühle.
Ich frage nach Boyd, den ich mir als alternden Hippie vorstelle, der noch Leinenhemden und weite indische Hosen trägt. Mel wendet das Gesicht ab, aber ich sehe noch, wie ein Ausdruck von Schmerz ihren Blick trübt wie ein Wolke.
»Boyd ist tot.«
Sie sitzt reglos da, damit sich die Stille an die Neuigkeit gewöhnen kann.
»Wann?«
»Vor über einem Jahr. Einer dieser Allrad-Jeeps mit Bullenfänger hat ein Stoppschild überfahren und ihn platt gemacht.«
Ich erkläre ihr, dass es mir Leid tut. Sie lächelt traurig und leckt den Milchschaum von ihrem Löffel.
»Man sagt, das erste Jahr wäre das schlimmste. Ich sag dir, es ist, als ob man von fünfzig Bullen mit Schlagstöcken und Schutzschilden verprügelt wird. Ich habe die Tatsache, dass er nicht mehr da ist, noch immer nicht so richtig verarbeitet. Eine Zeit lang habe ich sogar ihm die Schuld gegeben. Ich dachte, er hätte mich verlassen. Ich weiß, das klingt albern, aber ich habe aus Trotz seine Plattensammlung verkauft. Es hat mich mehr als das Doppelte gekostet, sie zurückzukaufen.« Sie lacht über sich und rührt in ihrem Kaffee.
»Du hättest dich melden sollen. Wir hatten keine Ahnung.«
»Boyd hatte eure Adresse verloren. Er war hoffnungslos. Ich weiß, dass ich euch hätte finden können.« Sie lächelt entschuldigend. »Aber eine Zeit lang wollte ich einfach niemanden sehen. Es hätte mich an die gute alte Zeit erinnert.«
»Wo ist er jetzt?«
»Zu Hause in einem silbernen Gefäß auf meinem Aktenschrank. « So wie sie es sagt, klingt es, als ob er im Gartenschuppen vor sich hin werkelt. »Ich kann ihn nicht hier beerdigen. Es ist zu kalt. Was, wenn es schneit? Er hat die Kälte gehasst.« Sie sieht mich traurig an. »Ich weiß, dass das dumm ist.«
»Finde ich nicht.«
»Ich dachte, ich spare und bringe seine Asche nach Nepal. Ich könnte sie von einem Berg streuen.«
»Er hatte Höhenangst.«
»Ja. Vielleicht sollte ich ihn einfach in die Mersey kippen.«
»Darf man das?«
»Ich weiß nicht, wie mich jemand davon abhalten sollte.« Sie lacht wehmütig. »Und was führt dich zurück nach Liverpool? Du konntest doch gar nicht schnell genug von hier wegkommen. «
»Ich wünschte, ich hätte euch mitnehmen können.«
»Nach Süden! Wohl kaum! Du weißt doch, was Boyd von London gehalten hat. Er hat immer gesagt, es wäre voller Leute, die etwas suchen, was sie sonst nirgends finden konnten, weil sie sich nie die Mühe gemacht haben hinzugucken.«
Ich kann förmlich hören, wie Boyd genau das sagt.
»Ich muss eine Fürsorgeakte einsehen.«
»Einen Rotrand!«
»Ja.«
Den Ausdruck habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. So nennen Sozialarbeiter in Liverpool Fürsorgeakten, weil das Antragsformular zur Inobhutnahme einen dunkelroten Rand hat.
»Um welches Kind geht es?«
»Bobby Morgan.«
Mel weiß sofort, von wem die Rede ist, das erkenne ich in ihren Augen. »Ich habe um zwei Uhr morgens einen Familienrichter aus dem Bett geklingelt, damit er den vorübergehenden Entzug des Sorgerechts unterschreibt. Der Vater hat Selbstmord begangen. Daran musst du dich doch erinnern.«
»Nein.«
Sie runzelt die Stirn. »Vielleicht war es einer von Erskines Fällen.« Rupert Erskine war der leitende Psychologe unserer
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