Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
Hintergrund ihrer blassen Haut sehen sie aus wie ein Relief aus Falten, die sich vereinigen und kreuzen, bevor sie sich im Nichts verlieren. Sie hat diese Wunden mehrfach geöffnet, hat Nähte gelöst oder frische Schnitte gesetzt. Sie hat es geheim gehalten, doch es gab eine Zeit, in der ich ihr Geheimnis geteilt habe.
»Mussten Sie noch mal genauer hinsehen?« Ruiz steht in der Tür.
»Ja.« Meine Stimme zittert unwillkürlich. Ruiz tritt vor mich und schiebt die Schublade zu.
»Sie dürfen sich hier drinnen eigentlich nicht alleine aufhalten. Sie hätten auf mich warten sollen.« Die Worte klingen schwer und gewichtig.
Ich murmele eine Entschuldigung und spüre seinen Blick auf mir, als ich mir an einem Waschbecken die Hände wasche. Ich muss etwas sagen.
»Was ist mit Liverpool? Haben Sie herausgefunden, wer …?«
»Die Mitbewohnerin wird von der dortigen Kripo nach London gebracht. Spätestens heute Nachmittag sollte eine positive Identifizierung vorliegen.«
»Das heißt, Sie haben einen Namen?«
Er antwortet nicht. Stattdessen werde ich den Flur hinuntergetrieben und muss warten, während er den Obduktionsbericht und die Fotos abholt. Dann folge ich ihm durch das unterirdische Labyrinth, bis wir durch eine Doppeltür in die Tiefgarage kommen.
Die ganze Zeit denke ich, dass ich jetzt etwas sagen sollte. Ich sollte es ihm erzählen. Doch ein anderer Gedankengang mahnt mich drängend, dass es keine Rolle mehr spielt. Er weiß ihren Namen. Und die Vergangenheit ist vergangen. Es ist eine uralte Geschichte.
»Ich habe Ihnen ein Frühstück versprochen.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Ich schon.«
Wir unterqueren die geschwärzten Bögen einer Eisenbahnbrücke und gehen eine schmale Gasse hinunter. Ruiz scheint sich in den Nebenstraßen auszukennen. Für einen Mann seiner Größe wirkt er erstaunlich leichtfüßig, während er Pfützen und Hundehaufen ausweicht.
Die großen Fenster des Cafés sind mit Dampf oder auch einem Fettfilm aus der Friteuse beschlagen. Ein Glöckchen klingelt, als wir eintreten. Der Mief aus abgestandener Luft und Zigarettenqualm ist schier überwältigend.
Der Laden ist bis auf zwei alte Männer mit eingesunkenen Wangen in Strickjacken, die in einer Ecke Schach spielen, und einen indischen Koch mit Eigelbflecken auf der Schürze leer. Es ist bereits später Vormittag, doch das Café serviert ganztägig Frühstück. Baked Beans, Pommes frites, Eier, Speck und Pilze in beliebiger Kombination. Ruiz wählt einen Tisch in der Nähe des Fensters.
»Was wollen Sie?«
»Nur einen Kaffee.«
»Der Kaffee ist beschissen.«
»Dann nehme ich Tee.«
Er bestellt ein komplettes englisches Frühstück mit einer Extraportion Toast und zwei Kannen Tee. Dann kramt er in seiner Jackentasche nach Zigaretten, bevor er murmelt, er hätte sein Handy vergessen.
»Es hat mir keinen Spaß gemacht, Sie da hineinzuziehen«, sagt er.
»Doch.«
»Na ja, vielleicht ein bisschen.« In seinen Augen lauert ein Lächeln, aber er wirkt kein bisschen selbstgefällig. Die Ungeduld, die ich am Abend zuvor beobachtet habe, ist verschwunden. Er ist entspannter und philosophischer.
»Wissen Sie, wie man Detective Inspector wird, Professor O’Loughlin?«
»Nein.«
»Früher hing es davon ab, wie viele Verbrechen man aufgeklärt und wie viele Leute man eingebuchtet hat. Heute kommt es darauf an, wie wenig Beschwerden es gibt und ob man seinen Etat nicht überzieht. Für diese Leute bin ich ein Dinosaurier. Seit das neue Polizeigesetz in Kraft ist, lebt die Sorte Polizist, wie ich einer bin, von geborgter Zeit.
Heutzutage spricht man von flexibler Ermittlungsstrategie. Wissen Sie, was das heißt? Es heißt, dass die Zahl der Detectives, die auf einen Fall angesetzt werden, von der Größe der Schlagzeilen in den Boulevardblättern abhängt. Wenn es sich erweist, dass sie die verdammte Florence Nightingale oder Tochter eines Herzogs war, kriege ich vierzig Detectives statt zwölf. Der Assistant Chief Constable wird wegen der ›komplexen Sachlage‹ persönlich die Leitung der Ermittlungen übernehmen. Jede öffentliche Erklärung muss von seinem Büro geprüft, jede Befragung genehmigt werden.«
»Warum hat man Ihnen den Fall gegeben?«
»Man ging wie gesagt davon aus, dass wir es mit einer toten Prostituierten zu tun haben. ›Gib den Fall Ruiz‹, haben sie gesagt. ›Er wird ein paar Kopfnüsse verteilen und den Zuhältern Gottesfurcht beibringen.‹ Und was macht es schon, wenn die sich beschweren.
Weitere Kostenlose Bücher