Adrenalin - Robotham, M: Adrenalin - The Suspect
Meine Akte ist so voll mit Beschwerdebriefen, dass die Dienstaufsicht einen eigenen Aktenschrank für mich hat.«
Eine Hand voll japanischer Touristen kommt am Fenster vorbei und bleibt stehen. Sie betrachten die Speisekarte auf der
Tafel und dann Ruiz, bevor sie sich entscheiden, weiterzugehen. Das Frühstück kommt, dazu Messer und Gabel in eine Serviette gewickelt. Ruiz kippt eine braune Sauce über seine Eier und schneidet sie klein. Ich versuche, nicht hinzusehen.
»Sie sehen aus, als hätten Sie eine Frage«, sagt er zwischen zwei Bissen.
»Es geht um ihren Namen.«
»Sie kennen die Vorschriften. Bis eine positive Identifizierung vorliegt und wir die Verwandten informiert haben, darf ich keinerlei Details herausgeben.«
»Ich dachte bloß – «, setze ich an und lasse den Satz unvollendet.
Ruiz nippt an seinem Tee und bestreicht seinen Toast mit Butter. »Catherine Mary McBride. Sie ist vor einem Monat siebenundzwanzig geworden. Eine Krankenschwester, aber das wussten Sie ja bereits. Laut ihrer Mitbewohnerin ist sie zu einem Bewerbungsgespräch nach London gefahren.«
Dass ich die Antwort schon kannte, lindert den Schock kein bisschen. Die arme Catherine. Jetzt sollte ich es ihm sagen. Ich hätte es direkt tun sollen. Warum muss ich alles rationalisieren? Warum kann ich nicht einfach aussprechen, was mir in den Sinn kommt?
Ruiz beugt sich über seinen Teller und schiebt Bohnen auf eine Ecke seines Toasts. Auf halbem Weg zu seinem offenen Mund bleibt die Gabel in der Luft stehen. »Warum haben Sie gesagt ›arme Catherine‹?«
Ich muss laut gedacht haben, und meine Augen verraten den Rest der Geschichte. Ruiz lässt die Gabel klappernd auf den Teller fallen. Wut und Argwohn schleichen sich in seine Gedanken. »Sie kannten sie.«
Es ist mehr eine Anklage als eine Feststellung. Er ist wütend.
»Ich habe sie zunächst nicht erkannt. Die Zeichnung von gestern Abend hätte praktisch jeder sein können. Ich dachte, Sie suchen eine Prostituierte.«
»Und heute?«
»Ihr Gesicht war geschwollen. Sie wirkte so … so … zerschunden. Ich war mir erst sicher, als ich die Narben gesehen habe. Sie ist eine ehemalige Patientin.«
Er ist nicht zufrieden. »Wenn Sie mich wieder anlügen, Professor, ramme ich Ihnen meinen Schuh so weit in den Arsch, dass Ihr Atem nach Schuhcreme riecht.«
»Ich habe Sie nicht angelogen. Ich wollte bloß sicher sein.«
Er hat den Blick nicht von mir abgewandt. »Und wann wollten Sie mir all das erzählen?«
»Ich hätte es Ihnen gesagt.«
»Ja, klar.« Er schiebt seinen Teller in die Mitte des Tisches. »Schießen Sie los – warum war Catherine eine Patientin von Ihnen?«
»Die Narben an den Handgelenken und Oberschenkeln – sie hat sich vorsätzlich selber geschnitten.«
»Ein Selbstmordversuch?«
»Nein.«
Ich sehe, dass er daran zu kauen hat. Ich beuge mich vor und versuche zu erklären, wie Menschen reagieren können, wenn sie von Verwirrung und negativen Gefühlen überwältigt werden. Einige trinken zu viel. Andere stopfen sich voll, schlagen ihre Frauen oder treten die Katze. Und eine überraschend hohe Zahl legt die Hand auf die heiße Herdplatte oder schlitzt sich mit einer Rasierklinge die Haut auf.
Es ist eine extreme Form der Bewältigung. Sie sprechen davon, ihren inneren Schmerz so nach außen zu wenden. Indem sie ihm einen körperlichen Ausdruck geben, wird es leichter für sie, damit umzugehen.
»Und was hat Catherine versucht zu bewältigen?«
»Vor allem ihre geringe Selbstachtung.«
»Wo haben Sie sie kennen gelernt?«
»Sie hat als Krankenschwester im Royal Marsden Hospital gearbeitet. Ich war dort Chefarzt.«
Ruiz lässt den letzten Schluck Tee in seiner Tasse kreisen und starrt darauf, als ob er darin eine Botschaft lesen könnte. Dann schiebt er unvermittelt den Stuhl zurück, zieht seine Hose hoch und steht auf.
»Sie sind ein ganz schön komischer Vogel, wissen Sie das?« Er wirft einen Fünf-Pfund-Schein auf den Tisch, und ich folge ihm nach draußen. Nach einem Dutzend Schritte dreht er sich zu mir um. »Okay, sagen Sie mir eins«, konfrontiert er mich. »Untersuche ich einen Mord oder hat sich das Mädchen selbst umgebracht?«
»Sie wurde ermordet.«
»Das heißt, sie wurde gezwungen , das zu tun – sich zahllose Male zu schneiden. Außer ihrem Gesicht gibt es keine Indizien dafür, dass sie gefesselt, geknebelt oder gewaltsam gezwungen wurde, sich selbst zu verletzen. Können Sie mir das erklären?«
Ich schüttele den
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