Adrienne Mesurat
schon erhoffen? Sie sah ein Licht im ersten Stock und spazierte durch die Straße, bis dieses Licht erlosch. Und ohne zu wissen warum, verspürte sie tiefe Zufriedenheit, als sie das Licht erlöschen sah, und sie kehrte erschöpft aber voll Zuversicht nach Hause zurück.
Am nächsten Tag erwartete sie die Dunkelheit mit einer Ungeduld und einer Freude, die sie vor ihrem Vater und ihrer Schwester kaum zu zügeln vermochte, und bezog wieder ihren Beobachtungsposten an der Straßenecke, sobald sie unbemerkt verschwinden konnte. Vor diesem kleinen weißen Haus und seinem erleuchteten Fenster fühlte sie sich glücklich. »Er ist da«, dachte sie, »ich weiß es.« Und auf unerklärliche Weise war diese Gewißheit für sie wie ein Pfand, das ihr jemand überlassen, wie ein Versprechen, das Maurecourt selbst ihr gegeben hätte.
Nun hatte sie eine neue Gewohnheit angenommen, als Ersatz für die bisherige, den Spaziergang übers Land in der Hoffnung, einen Wagen auf der Straße auftauchen zu sehen. Von morgens bis abends dachte Adrienne einzig an den Augenblick, in dem sie sich wieder an die Villa Louise schmiegen würde, und sie beobachtete unentwegt den Himmel in der Furcht, eine Wolke könnte das Wetter verderben und ihr damit diese Stunde rauben, die von einem Tag auf den anderen zu ihrem Lebensinhalt geworden war.
IV
Im Sommer ging Adrienne jede Woche zweimal in den Garten, um unter den wachsamen Blicken ihres Vaters, der sie von der Außentreppe her beobachtete, und ihrer auf dem Kanapee ruhenden Schwester Blumen zu pflücken. Sie spazierte an den mit Ziegeln eingefaßten Beeten entlang, blieb hin und wieder stehen, zupfte an jenen feinen Gräsern, aus denen ein Milchtropfen quillt, wenn man sie knickt, und drohte den sonnenverbrannten Blumen mit ihrer quietschenden Schere. Wenn dieser Kontrollgang beendet war, schnitt sie fünf oder sechs Stengel von den roten Geranien ab, den einzigen Pflanzen, die gewillt schienen, in diesem kargen Boden zu wachsen, und kehrte in die Villa zurück, um sie in Vasen zu stellen. Während der übrigen Zeit beschränkte ihre Aufgabe sich darauf, durchs Haus zu laufen, nachdem das Dienstmädchen Besen und Staubwedel geschwungen hatte, und zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Früher hatte sie diese kleinen Pflichten recht gerne erledigt, denn sie verkürzten die zähen Stunden der Langeweile zwischen den Mahlzeiten, doch nun kamen sie ihr stumpfsinnig vor. Sie hätte es vorgezogen, nichts zu tun und sich ihren Träumereien hinzugeben, mit dem Vergnügen, träge all den Gedanken nachhängen zu können, die ihr durch den Sinn gehen mochten. Manchmal setzte sie sich in einen großen Lehnsessel im Salon, und den Kopf zum Fenster gewandt, die Hände über den Knien ineinandergeschlungen, verharrte sie eine Stunde, als wäre sie ganz in etwas vertieft, das sie am Himmel sah. Sie genoß dieses Nichtstun und glitt, wobei die Hitze das ihre tat, in einen Zustand der Benommenheit, während sich in ihrem Kopf alles in wohlige Verworrenheit auflöste.
Dennoch war dies keine natürliche Veranlagung ihres Charakters. Ganz im Gegenteil, sie war lebhaft, aber diese Art Spiel, das darin bestand, ihr Denken nicht mehr zu steuern, sondern es frei um eine Erinnerung oder irgendein Vorhaben ranken und kreisen zu lassen, schien ihr nützlich, denn es hielt sie davon ab, in Traurigkeit zu verfallen, und erlaubte ihr, das Ende des Tages abzuwarten, ohne übermäßig zu leiden.
Das kleinste Geräusch auf der Straße ließ sie wieder zu sich kommen und lockte sie sogleich ans Fenster. Instinktiv wandte sie die Augen nach links, zu dem weißen Haus, dessen Fensterläden schon um acht Uhr morgens zugezogen wurden und sich erst abends um sechs wieder öffneten, wenn die Luft ein wenig abkühlte. Diesen Augenblick kannte Adrienne gut; sie lauerte auf sein Herannahen mit einer Unruhe, von der sie nicht hätte sagen können, ob sie ihr Freude oder Schmerz bereitete. Sie wagte noch nicht, durch die Rue du Président-Carnot zu spazieren, aus Angst, gesehen zu werden oder vielleicht die Person zu sehen, die sie so unbändig zu sehen wünschte, doch ab halb sechs konnte sie nicht mehr stillsitzen, und um Viertel vor sechs stieg sie leise in das Zimmer im zweiten Stock hinauf, das Germaine vor Einbruch der Nacht nicht aufsuchte, und nahm ihren Beobachtungsposten am Fenster ein. Sie setzte sich auf die Fensterbank, in die Öffnung, und um besser sehen zu können, klammerte sie sich mit einer Hand am Vorhang fest,
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